Für Kontraste ist Cannes immer gut. Nach der pompösen Eröffnung mit dem Film "Grace of Monaco", der bei den Kritikern einhellig verrissen wurde, folgte schwere politische Kost. Der afrikanische Beitrag "Timbuktu" schildert das Schicksal von Flüchtlingen aus Nord-Mali, die vor dschihadistischen Rebellen flüchten. Filmisch kein Meilenstein, als politisches Zeichen freilich allemal preisverdächtig.

Noch so ein Kontrast: Ein bissiger Gesellschaftskritiker porträtiert einen romantischen Maler! Dass ausgerechnet der Brite Mike Leigh ("Nackt") sich mit "Mr. Turner" filmisch dem Leben seines berühmten Landmanns Joseph Turner widmet, ist eine ziemliche Überraschung. Als der Künstler anno 1851 mit 76 Jahren starb, hinterließ er mehr als 20.000 Werke. Dramatische Naturszenen gehörten zu den Leitmotiven dieses Vorläufers des Impressionismus.

Filmgemälde

Wer einen bieder bebilderten Wikipedia-Eintrag erwartet, wird bei Leigh glücklicherweise enttäuscht. Einmal mehr stehen bei ihm die ganz normalen Menschen im Mittelpunkt. Da ist der Vater, ein einfacher Friseur. Die Haushälterin, eine verschmitzte Beobachterin. Oder die späte Liebe des Künstlers, eine herzensgute Vermieterin. Auf der anderen Seite die Wohlhabenden, die allesamt als eingebildete Schnösel daherkommen. Wie von Turner gemalt sehen die ersten Bilder dieser Biografie aus: eine Windmühle in idyllischer Landschaft, durch die im sanften Sonnenlicht zwei Frauen schreiten.

Auch später nähert sich Leigh stilistisch immer wieder an seinen Helden an und findet grandiose Tableaus. Erzählt wird von den letzten Jahren des Meisters. Die Ehe ist längst gescheitert, umso enger der Kontakt zum Vater. Als er sich auf Motivsuche in einer Pension einmietet, findet der wortkarge Maler, der sich oft nur mit Grunzlauten äußert, in der Vermieterin seine späte große Liebe. "Du besitzt eine unglaubliche Schönheit", wird er der verdutzten Frau einmal sagen, die keineswegs dem gängigen Ideal entspricht.

Demut

Genau das ist der Kern dieser Biografie: Ein Maler, der in allen Dingen den Zauber des Schönen entdeckt. 100.000 Pfund bietet ihm ein reicher Fabrikant für seine Bilder. Der bescheiden lebende Künstler lehnt ab. Er will, dass alle Kunstwerke später der Staat bekommt, auf dass sie dem Volk gratis gezeigt werden können.

Über zweieinhalb Stunden nimmt sich Leigh für seinen Film Zeit und entführt ebenso elegant wie bewegend in das erstaunlich normale Leben eines Ausnahmekünstlers. Verkörpert wird dieser von Timothy Spall, dem die Palme für diese überragende Leistung wohl sicher sein dürfte.

Zauberwort

Für Medienwirbel sorgte vorab "Welcome to New York" von Abel Ferrara, der die Skandalgeschichte des Dominique Strauss-Kahn aufrollt - ohne ihn beim Namen zu nennen. Gérard Depardieu gibt den bulligen Macho beim Sex freizügig. Offiziell hat das Werk mit dem Festival nichts zu tun, vielmehr nutzt der Verleih die feine Adresse geschickt zum Werberummel.

Gleich nach der Vorführung morgen Abend steht der Film auf Videoportalen zum kostenpflichtigen Download bereit. "Ecinema" heißt das neue Zauberwort, mit dem sich Verleiher in Zukunft die Kosten traditioneller Kinoauswertung sparen wollen. Dabei drohen den Kinos ohnehin düstere Zeiten. Traditionell vor Cannes veröffentlicht die EU die europäischen Besucherzahlen - und die waren 2013 niedrig wie seit 2005 nicht mehr.