Herr Ruzowitzky, wie geht es einem bei einem Projekt wie "Das radikal Böse", das intensiv die Abgründen der menschlichen Seele erkundet?

STEFAN RUZOWITZKY: Es verhält sich ähnlich wie damals bei "Die Fälscher": Am meisten nimmt einen das Thema am Anfang mit, dann wird es zum Arbeitsmaterial, dem man sich per pragmatischem Zugang nähert. Das erste instinktive Grauen verschwindet.

Nach "Die Fälscher" aus 2007 kehren Sie nun dokumentarisch zum Thema Holocaust zurück.

RUZOWITZKY: Mich haben die psychoanalytischen Ansätze bei diesem Thema schon immer interessiert. Die Täter-Generation lebt nicht mehr, heute geht es nicht mehr darum, sie mit ihrer Schuld zu konfrontieren, sondern um die Frage: Wie können normale Durchschnittsmenschen plötzlich so schreckliche Dinge tun? Wo öffnen sich diese Abgründe, die man nie erwartet hätte?

Ist das die methodische Fortsetzung von Claude Lanzmanns "Shoah"? Quasi "Shoah 2.0"?

RUZOWITZKY: Ich bin ein großer Fan von "Shoah" und der Arbeit von Lanzmann. Aber seine Methode hat in den 70er Jahren funktioniert, als es noch Zeitzeugen gab, die sich gut erinnern konnten. Heutzutage muss man neue Wege finden, um diese Themen anzugehen. In unserem Fall bedeutet das die Nutzung von Briefen, Tagebucheinträgen oder Verhören der damaligen Täter.

Besteht in der Erklärung für das Verhalten der Täter nicht die Gefahr der Entschuldigung?

RUZOWITZKY: Erklärung wird leicht mit Entschuldigung verwechselt. Aber: Selbst wenn ich verstehe, warum Menschen damals so gehandelt haben, ist die moralische Bewertung eine andere Sache. Wir zeigen dass es Leute gab - auch wenn es wenige waren -, die Nein gesagt haben. Sie beweisen, dass es möglich war, sich anders zu entscheiden.

Die Aussagen werden von Schauspielern wie Benno Fürmann, Devid Striesow, Nicolette Krebitz vorgelesen - weshalb sind prominente Namen wichtig?

RUZOWITZKY: Diese Texte wirken ganz anders, wenn sie aus der Sicht der Täter gesprochen werden. Deswegen benötigt man Leute, die mit ihren Stimmen gut umgehen können und die wissen, was sie machen. Die Auswahl der Schauspieler ist eher pragmatisch: Das sind Kollegen, mit denen ich bereits zuvor schon in meinen Filmen gearbeitet hatte und deren Stimme ich gut kenne.

In den Spielszenen zu den Aussagen treten Laien in Uniform auf. Wie findet man Statisten, die jenseits des üblichen, unnatürlich wirkenden Gehampels agieren?

RUZOWITZKY: Auf die Statisten bin ich stolz. Sie wussten beim Dreh nicht, welche Texte später über ohre Szenen drübergesprochen würden. Der gewünschte Effekt war, dass man in diese leeren, offenen Gesichter etwas hineininterpretiert, nur aufgrund dessen, was man durch die Aussagen im Off hört: Traut man einem Menschen mit diesem harmlosen Gesicht so etwas Schreckliches zu?

Sie lassen renommierte Holocaust-Forscher zu Wort kommen, aber auch den US-Militärpsychologen Dave Gossman. Wie kam er in diese Dokumentation?

RUZOWITZKY: Gossman vertritt eine Position, die man hierzulande kaum zu hören bekommt. Er macht sich als Militärpsychologe seine Gedanken über das Töten und wie Soldaten damit umgehen. Mehr noch: Er überlegt, was Menschen dazu bringt, dass sie töten. Er steht gleichsam auf der anderen Seite. Diese Denkweise finde ich einen spannenden Beitrag zu diesem Thema.

Hilft der Oscar auch dem Ego eines Regisseurs, der sich fortan nichts mehr beweisen muss?

RUZOWITZKY: Ja und nein. Materiell geschafft hat man es mit einem Oscar sicherlich nicht, auch wenn das gerne geglaubt wird. Aber man muss bei einem neuen Projekt nicht mehr eigens beweisen, dass man kein Anfänger ist.