Wer hätte sich vor ziemlich genau 41 Jahren, als Bruce Springsteen sein Debütalbum "Greetings from Asbury Park, N.J." unters amerikanische Volk warf, gedacht, dass der mittlerweile zum "Boss" geadelte Musiker immer noch topfit ausverkaufte Stadionkonzerte auf der ganzen Welt bestreitet? Auf eben der aktuellen "Wrecking Ball"-Tour entstand das mittlerweile 18. Studioalbum namens "High Hopes", das vorab im Internet als Stream zu hören war und seit Freitag auch offiziell auf dem Markt ist.

Dem Hörer präsentiert sich ein buntes Sammelsurium geglückter Coverversionen, nicht immer gelungener Neuaufnahmen bewährter (Live-)Klassiker und von bis dato unveröffentlichten Songs. Als "neue Muse" und Anstoßgeber zu diesem Projekt fungierte Tom Morello, der einstige "Rage against the Machine"-Frontmann ist ein begnadeter Gitarrist. Im Vorjahr war er bei mehreren Australien-Konzerten für Springsteen-Buddy Steven van Zandt eingesprungen, als dieser wegen seiner Hauptrolle in der norwegischen Mafia-Serie "Lilyhammer" einige Zeit unabkömmlich war.

Weniger ist oft mehr

Morello haucht dem schon leicht angegrauten Spätwerk Springsteens zweifelsohne neues Leben ein, wie auch der 64-jährige Altmeister persönlich versicherte: "Die E Street Band ist ein großes Haus, aber wenn Tom Morello mit uns auf der Bühne ist, dann entsteht ein neuer Anbau." Die Kollaboration trägt geschmackvolle Früchte, wie etwa der Titeltrack "High Hopes" zeigt, in dem die Gitarre den Hauptpart einnimmt – ungewohnt, kommt diesem Instrument doch ansonsten zumeist nur eine Rolle unter vielen im orchestrierten Klangensemble der E Street Band zu.

Das weniger aber auch oft mehr bedeutet, stellt die Neuinterpretation von "The Ghost of Tom Joad" unter Beweis, Titeltrack des gleichnamigen Albums aus dem Jahr 1995. Im Original eine schlichte, dem traurigen Thema angepasste Folkballade, kommt sie in der aktuellen Version anfangs wuchtig daher, um dann in immer obskureren Soundeffekten auszufransen. Ein spannendes Experiment, das dem grandiosen Stück jedoch ein wenig die Magie raubt.

Solide ist hingegen die Studiofassung des Live-Klassikers "American Skin (41 Shots)", eine seinerzeit für Kontroversen sorgende Anklage gegen überzogene Polizeigewalt: 1999 hatten vier weiße Cops in der New Yorker Bronx den aus Guinea stammenden Einwanderer Amadou Diallo mit 41 Schüssen getötet. 2012 widmete Springsteen diesen Song während eines Konzertes in Limerick (Irland) dem ebenfalls erschossenen schwarzen Jugendlichen Trayvon Martin. Dennoch, der Song entfaltet nur auf der Bühne seine ganze Kraft.

Abseits einiger verzichtbarer, schwächerer Stücke ("Heaven's Wall", "This is Your Sword") machen die erstmals vor den Vorhang geholten Lieder aus dem unerschöpflichen "Boss"-Fundus durchaus Spaß: das ungewöhnliche "Harry's Place" etwa oder "Hunter of Invisible Game". Absolut gelungen ist auch "Just Like Fire Would", die Coverversion eines Songs der australischen Punk-Kombo "The Saints": Man kann sich das fidele, übermütige Stück auch gut im Madison Square Garden oder im Ernst-Happel-Stadion vorstellen.

Hommage an alte Freunde

Es mag skurril sein, dass der begnadete Entertainer Bruce Springsteen, der mithalf, aus dem Stadionrock so etwas wie eine Kunstform zu schaffen, gerade in den ruhigen Momenten am ehesten seine Qualitäten als Songwriter ausspielt. "Down in the Hole", das direkt der 09/11-Platte "The Rising" entstammen könnte, etwa ist überhaupt ein Familienprojekt, nebst Gattin Patti Scialfa steuerten auch die drei gemeinsamen Kinder Background-Stimmen bei.

Die bereits verstorbenen "E Street Band"-Originalmitglieder Danny Federici (Orgel) und Clarence Clemons (Saxophon) legten bei "Down in the Hole" wie bei "The Wall" ebenfalls Hand bzw. Mund an – quasi ein letzter Gruß aus dem Jenseits. Zu "The Wall" inspiriert wurde Springsteen bei einem Besuch des Vietnam Veterans Memorial in Washington D.C., das Lied ist eine späte Hommage an einem im Krieg gefallenen Musikerkollegen. Entlassen wird der Hörer übrigens wieder mit einer Coverversion, das ins Springsteen-Gewand gekleidete "Dream Baby Dream" des US-Duos "Suicide".

Wer sich von einem 64-Jährigen, der auf eine jahrzehntelange Erfolgs-Karriere zurückblicken kann, noch große Innovationen erwartet, wird zwangsläufig enttäuscht sein. Dennoch präsentiert sich "High Hopes" dank der Mithilfe von Tom Morello als solides "Zwischen-Projekt". Nicht nur Springsteen-Fans werden an Kleinoden wie "Down in the Hole" und "The Wall" sicherlich ihre Freude haben, wenn auch die gewöhnungsbedürftige Neuinterpretation von "The Ghost of Tom Joad" den guten Gesamteindruck etwas trübt.