Sie haben die Rettiche aus dem Boden gerissen und die Äste von den Bäumen gerupft. Mehrere Dachziegel sind verschwunden und aus dem Plumpsklo in der Ecke des Hofes stinkt es. "Alles ziemlich verrückt", brummelt Guan Moxin bei seinem täglichen Inspektionsgang durch das kleine Gehöft seines Bruders.

Zum Glück lasse sich die Haustür abschließen, meint Guan, sonst hätten die Souvenirjäger sicher auch drinnen geplündert. Nicht, dass in dem verlassenen Bauernhaus etwas Wertvolles zu holen wäre: ein alter Wok, ein paar zerzauste Besen, eingestaubte Bettmatten, zwei kaputte Koffer. Doch seitdem der ehemalige Bewohner am 11. Oktober den Literaturnobelpreis zugesprochen bekommen hat, ist seine Geburtsstätte im ostchinesischen Landkreis Gaomi eine nationale Attraktion geworden, und sein älterer Bruder zu ihrem unfreiwilligen Verwalter.

Allein zweihundert Journalisten habe er in den vergangenen Wochen empfangen, schätzt er. "Mo Yan ist jetzt in Peking und geht seit Wochen nicht ans Telefon", erklärt er. "Wahrscheinlich will er mit all dem hier nichts zu tun haben."

"Opfergabe"

Aber dieses Gaomi ist Mo Yans Literatur-Welt. Der 57-Jährige Romancier wurde nicht nur hier geboren. Der Landkreis Gaomi ist auch der Schauplatz, an dem der Großteil seiner rund zwanzig Romanen spielt. "In diesem Buch beschwöre ich die erzürnten Geister der Helden, die durch die grenzenlosen roten Hirsefelder meiner Heimat schweifen", lautet die Widmung, die er seinem ersten Bestseller "Das Rote Kornfeld" voranstellte, einem Epos über Gaomi im antijapanischen Krieg.

"Ich, euer unwürdiger Nachkomme, bin bereit, mir das Herz aus der Brust zu reißen, es in Sojasauce einzulegen, durch den Fleischwolf zu drehen, auf drei Essschälchen zu verteilen und es euch in den Hirsefeldern als Opfergabe darzubringen. Guten Appetit!"

Derart exaltierte Liebeserklärungen an Gaomi sind für Kritiker der Stoff, aus dem Mo Yans gesamtes Werk gestrickt ist. Hier verbrachte er die ersten 21 Lebensjahre, in denen er noch den bürgerlichen Namen Guan Moye trug, bevor er zur Armee ging. Vor dort wurde er bald ins Korps der staatlich bezahlten Autoren aufgenommen, dem er bis heute angehört, und nahm den Künstlernamen Mo Yan an, der so viel wie "Keine Worte" bedeutet.

Abgetaucht

Seine Frau, die er während der Kulturrevolution bei der Arbeit in einer lokalen Fabrik kennengelernt hatte, lebte mit der gemeinsamen Tochter jedoch bis 1988 in dem alten Lehmhaus, bis die Familie sich eine Wohnung in der Kreisstadt nahm und begann, den größten Teil des Jahres in Peking zu verbringen. "Aber Mo Yan kommt noch immer häufig zurück", erzählt sein Bruder, "und wenn er hier ist, fügt er sich ein, als wäre er nie weggegangen."

Man würde gerne mit Mo Yan selbst darüber sprechen. Doch der Preisträger ist seit Mitte Oktober abgetaucht, um seine Nobelvorlesung zu schreiben, die er am Freitag in Stockholm hielt, ehe der Preis e gestern offiziell verliehen wurde (siehe Bericht in der Außenspalte). 2009 erzählte er in einem Interview mit dieser Zeitung aber ausführlich, wie sehr seine Literatur in Gaomi verwurzelt ist. "Gaomi ist meine literarische Heimat", sagte er damals. Zwar habe er als junger Mann wie viele Chinesen versucht, dem Landleben zu entkommen. Beim Schreiben habe er sich aber immer wieder auf seine Heimat zurückgeworfen gefühlt. "Erst hat mich das eingeschränkt", gestand er. "Aber dann habe ich gemerkt, was für ein Schatz das ist."

Denn zur Schriftstellerei brachten ihn nicht die großen Werke der Literatur, sondern die Geschichtenerzähler seiner Heimat, die das Volk abends mit wilden Anekdoten von Helden und Schönheiten, Geistern und Dämonen unterhielten. Ihre Erzählweise, drastisch und ungestüm, ist zur Sprache seiner Bücher geworden, und ihre Stoffe beflügeln bis heute seine Fantasie.

Barfußärztin

Mo Yans jüngstes Werk, "Frosch", basiert etwa auf der Lebensgeschichte seiner Tante Guan Yilan, die fünfzig Jahre lang als sogenannte "Barfußärztin" in den Dörfern der Region unterwegs war und die Bauern mit ihrem selbst angeeigneten medizinischen Wissen versorgte.

Ohnehin ist es schwer, in Gaomi Menschen zu finden, die neben Mo Yan, dem Altvertrauten, auch Mo Yan, den Autor kennen. Erkundigt man sich bei den Nachbarn nach seinen Büchern, lachen sie nur. Selbst sein Bruder gesteht ein, schon länger nichts mehr von ihm gelesen zu haben, und auf die Frage, was ihm in Erinnerung geblieben sei, erklärt er, alle Bücher seien sich doch "recht ähnlich".

Einer, der die Werke, die das Nobelpreiskomitee für ihren "halluzinatorischen Realismus" lobte, tatsächlich gelesen hat, ist Zhao Chunsheng. Der Parteisekretär von Gaomis Kulturamt thront im zwölften Stock des Regierungsgebäudes in der gleichnamigen Kreisstadt. Auf dem Schreibtisch steht ein Bild von Zhao mit Mo Yan. Kennengelernt haben sie sich bei den Dreharbeiten zu "Das Rote Kornfeld" und Zhao, damals selbst ein ambitionierter Romanautor, zeigte dem erfolgreichen Kollegen seine Manuskripte. "Mo Yan sagte: Deine Sprache ist so schön, dass du lieber Gedichte schreiben solltest", erinnert sich Zhao lachend.

Er verstand den Hinweis und schlug die Beamtenlaufbahn ein. Freunde seien sie trotzdem geworden, sagt Zhao.