„Während der Morgen über den Ginseng-Gärten dämmerte“ waren Craig Thompson und sein kleiner Bruder Phil schon längst aus den Federn. Sie zwängten sich in dreckige Jeans und zogen hinaus auf die weiten Felder von Marathon, Wisconsin. Dort gruben sie mit ihren klammen Fingern Ginsengwurzeln aus der Erde.
Diese Graphic Novel ist – trotz ihres wenig ansprechenden Titels – wie eine „Schachtel Pralinen, man weiß nie, was man bekommt“ (Zitat Forrest Gump): Sie erzählt nicht nur vom harten, aber nicht unglücklichen Leben, einer Familie der Arbeiterklasse. Der US-Comickünstler holt auch zu einer großen Geschichte aus, die vom ruralen und konservativen Amerika erzählt. „Mutter Natur“, sagt Craigs Mama, „das sagen Atheisten anstelle von Gott.“
Alles ist verflochten
Thompsons Erzählung ist auch von Verständnis durchwebt – wie der Boden von Wisconsin von Ginseng. Dabei erhebt der Autor nicht den Zeigefinger, sondern stellt dar, was passiert: wenn man Pestizide verwendet und die Arbeiter – wie auch die Kinder – auf die gerade gespritzten Felder schickt. Der Autor erzählt auch von seinen eigenen Erkrankungen und von der engen Verflochtenheit der kleinen Farm mit der Welt. Die Geschichte handelt von Klassenkampf, Arbeiterthemen, Kapitalismus, Umweltschutz und einem Slogan, den Donald Trump unterschrieb: „Make American Ginseng Great Again“. Auch die Covid-Pandemie bleibt nicht unerwähnt.
Thompson gelingt ein monumentales Werk (das auch als Geschichtsbuch lesbar ist), das auch durch seine grafischen Lösungen besticht: Zwar arbeitet er auch in Panels, löst diese aber immer wieder auf, um großflächige Gemälde zu kreieren. Nie verliert die Erzählung ihren Faden – obwohl sie unzählige Schauplätze in Vergangenheit und Gegenwart streift. ●●●●○
„Monica“ – eine Wundertüte an Geschichten
„Monica“ ist eine Geschichte des Verlustes: Ihre Mutter war nie wirklich für sie da, immer wieder verliert sie ihr Zuhause und landet bei ihren Großeltern. Es geht um Hippies, Psychedelisches, verwoben mit Geschichten von Dämonen und Sekten. Im Look alter Pulp-Magazine und früher Comic-Strips entpuppt sich die Geschichte als grandiose Wundertüte.
Autor Daniel Clowes präsentiert seine Geschichte als eine Folge verschiedener Szenerien, die auf den ersten Blick nicht miteinander zusammenhängen. Das an Imaginationskraft reiche Werk ist Thriller, Drama und Psycho-Schocker zugleich. Die Geschichte erschließt sich nicht auf den ersten Blick, sondern fordert vom Leser Aufmerksamkeit. Schaurig wird es, wenn Monica über ein Radio zu ihrem toten Großvater Kontakt aufnimmt. ●●●●○ AK
„Zeit heilt keine Wunden“
Ernst Grube war ein jüdischer Junge, der das brutale Morden der Nazis und das KZ Theresienstadt überlebte. Sehr eindringlich erzählt Hannah Brinkmann vom Leben Grubes und seiner Familie. In einem zweiten Erzählstrang steht der Nazi-Staatsanwalt Kurt Weber im Fokus, der Grube nach dem Ende des Krieges als Richter gegenübersteht. ●●●●○ AK
„Der Rabe“
Edgar Allan Poes Gedicht „Der Rabe/ The Raven“ ist von eindringlicher Kraft. Dieses illustrierte Gedicht ist eine schöne Gelegenheit, sich wieder mit dem Meister der Abgründe zu beschäftigen. Die Übersetzung aus dem Jahr 1869 ist schön, aber erst das englische Original macht verständlich, wie gut Poe war. ●●●○○ AK