So viel steht fest, mit Bill Kaulitz möchte man lieber keine verdeckten Einsätze absolvieren, bei denen Stille und Konzentration vonnöten ist, denn eher früher als später lacht er wohl die gesamte Nachbarschaft zusammen. Schallend laut und hoch ansteckend. Es changiert irgendwo zwischen Exitstrategie – aus unangenehmen Situationen – und echtem Amüsement. Es ist die Vertonung seiner Exaltiertheit, die sich auf den ersten Blick in seinem Erscheinungsbild zeigt.

In der Disziplin Schubladendenken gibt es ein Wort, das alles aufsaugt, wo es sich bei den klassischen Kategorien halt gerne so spießt: Typ Paradiesvogel, da würden viele den Musiker wohl gerne hineinverfrachten. Dabei probt der Sänger und Frontman der Band „Tokio Hotel“ seit Jahren seinen Ausbruch – aus der Inszenierung einer Musikindustrie, die ihre Cashcows gemäß der Nachfrage geformt und in Schablonen gepresst hat. „Ich will nie wieder dieser Bill werden“, sagt Kaulitz in der Dokuserie „Kaulitz & Kaulitz“ (Netflix). Das klingt nicht trotzig oder traurig, sondern ziemlich bestimmt. Gerade einmal 16 Jahre alt waren die eineiigen Zwillinge Bill und Tom Kaulitz, als sie mit ihrer Band „Tokio Hotel“, dem Album „Schrei“ und der dazugehörigen Single „Durch den Monsun“ die Erfolgswelle lostraten. Die hat sie letztlich eiskalt erwischt. Die Fieberkurve nahm lichte Höhen und absurde Ausmaße an und das in einer Zeit, als Social Media noch in den Kinderschuhen steckte.

Teeniestars: Bill und Tom Kaulitz 2007
Teeniestars: Bill und Tom Kaulitz 2007 © Imago

Es war die klassische Genese von Kinderstars, die wie Passagiere durch ein Popuniversum geschossen werden. Letzteres ist nicht frei von Schattenseiten, jedes Rampenlicht wird irgendwann einmal abgedreht. 2010 haben sich die Zwillinge nach Los Angeles vertschüsst, nachdem sich die Waagschale der öffentlichen Emotion eher in Richtung gehasst denn geliebt geneigt hat. In den Hollywood Hills leben sie nun ein Leben a lá „Pippi Langstrumpf“: Ich mach mir die Welt, wie sie mir gefällt. Die achtteilige Dokuserie ist eine dichte Mixtur aus schräg-schrullig-schrillem Promi-Alltag, Archivmaterial und einem Selbstfindungstrip von Bill Kaulitz, der viel über das Popbusiness an sich verrät und wie es sich verändert hat.

Als „Voice of Germany“- Juroren 2023
Als „Voice of Germany“- Juroren 2023 © Imago

Dreh- und Angelpunkt sind nicht etwa die emotionalen Auf-und Abs von Bill Kaulitz, sondern das Ausmisten eines unscheinbaren Lagerraumes in Los Angeles. Hier liegt die Karriere der Brüder in Kisten verpackt. Beim Ausmisten stolpern sie neben Bühnenoutfits auch über eine Kiste mit über 100 Auszeichnungen, die sie gewonnen haben. Der Preis dafür war hoch: Bill Kaulitz hat einen Teil seiner Identität eingebüßt, indem er seine Homosexualität, auch öffentlich, verleugnen musste. Denn die Inszenierung sah einen jungen heterosexuellen Mann mit Manga-Emo-Frisur vor, den die vorwiegend weibliche Zielgruppe anschmachten konnte. „Ich habe Bill leiden sehen“, wird sein Zwillingsbruder sagen, der mit Argusaugen über seinen Bruder wacht. Tom Kaulitz, der Vernünftige, der Bodenständige, der immer ein bisschen abseits des Rampenlichts steht, das Bill so anziehend findet. Dass er seit ein paar Jahren mit Heidi Klum verheiratet ist, bringt ihn auch nicht aus der zweiten Reihe – will er, so scheint es, auch nicht.

Szene aus der achtteiligen Serie „Kaulitz & Kaulitz“ auf Netflix
Szene aus der achtteiligen Serie „Kaulitz & Kaulitz“ auf Netflix © Netflix

Sein Tokio-Hotel-Trauma gibt bei ihm die Marschrichtung vor: „Wir wollen nie wieder von jemandem abhängig sein“. Die Brüder haben sich längst vom Management- und Plattenfirmendruck emanzipiert, neben der Band machen sie Shows fürs Fernsehen, einen Podcast und jetzt auch eine Serie.

„Wir hatten die härteste Schule, durch die man gehen kann“, ein Befund von Tom Kaulitz, der für viele nachkommende Künstlerinnen und Künstler meist nicht mehr gilt. Sie können sich durch die Vertriebs- und Aufmerksamkeitsplattform Social Media aus dem Korsett des Musikbusiness befreien. Instagram, YouTube oder TikTok sind längst zu virtuellen Bühnen avanciert, die einen über Nacht auf die große Bühne katapultieren können. Bestes Beispiel ist Taylor Swift: Mit über 280 Millionen Followern auf Instagram ist sie Star und Werbeagentur in einem.

Nur ein Markt reißt hier gewaltig aus: das K-Pop-Universum Südkorea. Agenturen und Plattenfirmen, oft beides in einem, binden ihre Künstlerinnen und Künstler bereits in den Castingprozessen an sich, um danach die komplette Vermarktung zu übernehmen.

Bill Kaulitz 2020 mit Georg Listing, Bassist von Tokio Hotel
Bill Kaulitz 2020 mit Georg Listing, Bassist von Tokio Hotel © Imago

Diesen Monsun der Fremdbestimmtheit haben die Kaulitz-Brüder hinter sich gelassen. Jetzt sind sie auf individuelle Ausgelassenheit gebürstet. Bill aber auch nur dann, wenn die Frisur richtig sitzt und das kann dauern.