Norah Jones hat zwar mehr als 50 Millionen Alben verkauft und neun Grammys gewonnen, aber sie sagt: „Ich habe lange gebraucht, um mich als Songwriterin zu sehen. Ich bin irgendwie rückwärts an die Sache herangegangen.“
Als Jones um die Jahrtausendwende von dem historischen Jazzlabel Blue Note Records unter Vertrag genommen wurde, war sie 20 Jahre alt und hatte eine Stimme wie Honig. Sie hatte die Musikschule abgebrochen, nachdem sie ihr Examen für klassisches Klavier nicht bestanden hatte, und war aus ihrer texanischen Heimat weggelaufen, um als Sängerin und Pianistin in einer Lounge-Bar in New York City zu leben. „Ich konzentrierte mich ganz auf den Jazz und spielte alte Songs, die Billie Holiday besser gesungen hatte als irgendjemand sonst“, sagt Jones in einem transatlantischen Videoanruf. „Es kam mir gar nicht in den Sinn, eigene Songs zu schreiben, denn wie soll man etwas schreiben, das so gut klingt wie ein Lied von Harold Arlen?“ Arlens zahllose Hits, von „Over the Rainbow“ bis „Stormy Weather“, gelten als Eckpfeiler des Great American Songbook.
Dann, eines Abends, änderte sich etwas. „Ich wohnte in einem winzigen Zimmer und hatte kein Klavier, aber eine Gitarre, die ich kaum spielen konnte“, gesteht Jones lachend. „Ich vermisste Texas sehr, und so schrieb ich diesen kleinen Country-Song. Ich glaube, das Spielen eines anderen Instruments hat mir geholfen, mich zu lösen, denn ich beherrschte nur vier oder fünf Akkorde, so dass ich gezwungen war, den Song einfach zu halten. Und dann kam die Emotion empor von dem, was ich sang, es war nicht geplant.
Star über Nacht
2002 wurde dieser Song, „Come Away with Me“, zum Titelsong ihres Debütalbums, das sich bisher 27 Millionen Mal verkaufte und damit bis heute das erfolgreichste Jazzalbum aller Zeiten ist. Es verschaffte Jones über Nacht einen Status, der ihr bis heute blieb.
„Dieses erste Album war einfach so verrückt“, sagt sie. „Ich war ja so jung und neue in der Szene, das war schon aufregend. Aber dann weiß jeder, wer du bist, un die Leute kritisieren dich, manche hassen dich sogar, das kann einen schon verwirren. Ich habe ziemlich schnell gelernt, dass man es nie allen Leuten recht machen kann, also sollte man lieber das tun, wozu man inspiriert ist“.
Für Jones bedeutet das, dass sie seither die Erwartungen auf den Kopf stellt. Ihr Debüt war ein Klassiker des Jazz-Pop, sinnlich gesungen und fein gespielt - eine Formel, die sie nie wiederholen konnte, ja nicht einmal wollte. „Auf diesem Niveau zu bleiben, jedes Mal 20 Millionen Alben zu verkaufen, wäre für mich unmöglich gewesen“, sagt sie. „Ich arbeite hart, glauben Sie mir, aber man muss in der Lage sein, das Spiel in der Branche ein wenig zu spielen. Und darin bin ich einfach nicht gut.“
Indem sie ihrem Herzen folgte, beschritt Jones einen unvorhersehbaren Karriereweg: Sie sang mit Keith Richards, Ray Charles, Tony Bennett, Herbie Hancock und den Foo Fighters gesungen, nahm mit Green Day-Punkrocker Billie Joe Armstrong eine Hommage an die Everly Brothers auf oder ein Country-Alben mit den Little Willies. Seit diesen ersten Schritten als Songschreiberin - nur drei der 14 Titel auf ihrem Debütalbum waren ihre eigenen Kompositionen - ist sie selbstbewusster geworden und begab sich vom Jazz-Pop weg auf ein abwechslungsreicheres musikalisches Terrain.
Künstlerischer Sprung
Einen künstlerischen Sprung nach vorne machte Norah Jones 2012, als sie mit dem innovativen Produzenten Danger Mouse für das Album „Little Broken Hearts“ zusammenarbeitete. „Er wollte mit nichts ins Studio gehen und sehen, was wir zusammen erfinden“, erinnert sie sich. „Ich war wirklich nervös, und ich erinnere mich, dass wir eines Tages bei einem Text nicht weiterkamen und er mit den Schultern zuckte und sagte: ,Es kommt, wenn es kommt.‘ Ich musste daran erinnert werden, dass es sich nicht um eine Gehirnoperation handelt. Also habe ich gelernt, es fließen zu lassen: Vertraue auf die Musik und nimm auf, was auch immer passiert!“
Nun veröffentlichte die 44-jährige Jones „Visions“: Ihr neuntes Soloalbum benannte sie „nach Ideen, die mir während einer Meditation kamen, kleine Blitze von Songs, wie Visionen“. Produziert vom Multiinstrumentalisten Leon Michels, ist es ein Werk mit verträumtem, retro-angehauchtem Alternative Pop und eine schöne Ergänzung zu Jones‘ Kanon an sinnlichem, zugänglichem Songmaterial.
Auf dem Album spielt Jones Gitarre, Bass und alle Arten von Keyboards und singt Harmoniegesänge, die an die Shangri-Las und die Supremes erinnern. „Es fällt mir leicht, mit Harmonien aufzuwarten, manchmal vielleicht zu viele“, sagt sie. „Jedes Mal, wenn ich eine Stimme sang, sagte Leon: ‚Okay, füge eine Harmonie hinzu. Okay, nimm noch eine auf‘. Wir hatten einfach nur Spaß... wir haben uns das so ausgedacht, wie es gerade passte.“
Eine Nummer, „Running“, enthält einen Refrain mit Jones‘ mehrstimmigem Gesang: „I keep running, oh, I keep running away“.Wovor rennt sie denn weg? „Das werde ich sicher nicht verraten“, sagt sie kichernd.
Norah Jones wurde 1979 als Geetali Norah Jones Shankar in New York als Tochter der Konzertproduzentin Sue Jones und des weltberühmten indischen Sitar-Virtuosen Ravi Shankar geboren und war gerade sieben Jahre alt, als sich ihre Eltern trennten. Danach wuchs sie bei ihrer Mutter in Texas auf und hatte vor ihrem eigenen musikalischen Durchbruch kaum Kontakt zu ihrem Vater. „Er hat nichts mit mir und meiner Musik zu tun“, sagte sie 2004 dem Magazin Rolling Stone, obwohl sie sich vor seinem Tod im Jahr 2012 wieder versöhnten und zusammenspielten.
Ihre jüngere Halbschwester Anoushka Shankar, deren Mutter Ravi Shankars zweite Frau war, wurde von ihrem Vater als seine Schülerin und Protegée in der Welt der klassischen indischen Musik erzogen, bevor sie als Interpretin anspruchsvoller Crossover-Musik berühmt wurde und neun Grammy-Nominierungen erhielt.
Die Schwestern lernten sich erst kennen, als Jones bereits in New York auftrat, wo sie sich schnell anfreundeten, fasziniert von den gegensätzlichen musikalischen Wegen, die jede von ihnen eingeschlagen hatte: Die ältere Schwester war mit der „zutiefst amerikanischen Plattensammlung ihrer Mutter, mit Ray Charles, Bill Evans oder Dolly Parton“ aufgewachsen und folgte ihrem Instinkt zum Ruhm. Die jüngere lernte zu Füßen ihres weltberühmten Vaters eine äußerst disziplinierte Kunst zu meistern.
Für eine Künstlerin, die seit mehr als zwei Jahrzehnten weltberühmt ist, bleibt Jones gern privat. Nicht, dass sie zurückhaltend wäre, aber sie wehrt Fragen ab, die ihr zu nahe gehen, wo auch immer das sein mag. Als ich sie frage, von wo genau sie anruft, sagt sie einfach „von zu Hause“. Sie ist seit etwa zehn Jahren mit Pete Remm verheiratet, der ebenfalls Musiker ist, und sie haben zwei Kinder, einen 2014 geborenen Sohn und eine 2016 geborene Tochter, deren Namen sie nie verraten hat. In einem seltenen Moment der Offenheit sagt sie dann doch: „Ich führe in gewisser Weise ein komplettes Doppelleben. Das eine ist, eine Familie zu haben und in den Alltag mit Kindern und Fahrgemeinschaften und Schule und allem anderen eingebunden zu sein. Und das andere ist. wenn ich ohne meine Kinder auf Tournee gehe, das ist quasi wie Urlaub von der Arbeit. Ich muss weder für mich noch für andere kochen. Ich muss den Abwasch nicht machen. Meine Kinder sind sauer auf mich, wenn ich weg bin, und zeigen mir das auch, wenn ich zurückkomme. Man versucht immer, ein Gleichgewicht zu finden, und das gelingt einem nie. Denn ich möchte für meine Kinder da sein, aber meine wahre Leidenschaft führt mich von ihnen weg. Es ist also ein bisschen ein Hin und Her.“
Neil McCormick