Diese Fakten sind unbestritten: Sein erstes Jahr in Wien verbrachte der später berühmte Dichter Joseph Roth als knapp 20-jähriger Student in der Rembrandtstraße im 20. Bezirk – in jenem Haus, in dem heute auch der deutsche Schriftsteller Jan Koneffke lebt. In dessen nächste Woche erscheinendem Buch „Im Schatten zweier Sommer“ vermischt der Autor Fiktion und Wirklichkeit, erfindet eine Liebesgeschichte zwischen Roth und der jungen Jüdin Fanny, in der Persönliches und Politisches gleichermaßen zu Wort kommen. Wie er das macht, ist detailreich recherchiert und mit viel Liebe zu seinen Figuren erzählt – sowohl zu den frei erfundenen als auch historischen Personen, wie Stefan Zweig, der ihn finanziell unterstützte, oder Roths Frau, die dem Euthanasieprogramm zum Opfer fiel, seinen Geliebten Andrea Manga Bell und Irmgard Keun.

„Ich wollte kein echter galizischer Jude sein. Ein unechter halber, ein unechtes Viertelchen. Franziska, als Ostjude hat man es schwer – und als einer in Wien umso schwerer“, vermerkt Fanny in ihrem Tagebuch, das – (etwas zu dicht) gespickt mit jüdisch-wienerischer Umgangssprache – einen großen Teil des Romans ausmacht. Als Untermieter bei Fannys Familie leidet der junge Roth unter chronischer Geldnot, schreibt Gedichte und träumt von einem Leben als Schriftsteller. Zwischen Volksgarten und Praterauen, Ringstraße und Donau verleben die Tochter eines Schusters und der Student aus Brody nahe Lemberg einen verliebten Sommer, doch „von einer Verlobung kein Wort“, ist die junge Frau enttäuscht. Als der Erste Weltkrieg ausbricht, trennen sich ihre Wege. Jahre später begegnen einander die beiden, den Nazis entkommen, im Pariser Exil wieder. Und hier, in ihrem zweiten gemeinsamen Sommer, holen sie ihre versäumte Jugendliebe nach.

Fanny, aus deren Perspektive der Roman erzählt ist, bemerkt erst zu spät den fortgeschrittenen Alkoholismus und die krankhafte Eifersucht des so charismatischen wie cholerischen Geliebten. Der jugendliche „Zimmerherr“ von einst ist ein vom Zerfall des Habsburgerreiches traumatisierter, verwahrloster Säufer geworden.

Während die späteren Jahre Joseph Roths recht gut dokumentiert sind, weiß man über seine Anfangszeit nur wenig. Es könnte also durchaus so gewesen sein, wie es sich Jan Koneffke ausgedacht hat. Auch wenn Skepsis gegenüber fiktiven Biografien angebracht ist, so zeichnet „Im Schatten zweier Sommer“ doch ein lebendiges Porträt des Künstlers und seiner Zeit. Heuer vor 130 Jahren geboren und vor 85 Jahren gestorben, wurde der Schöpfer der Romane „Radetzkymarsch“, „Kapuzinergruft“ und „Hiob“ nur 45 Jahre alt. Dass seine Novelle „Die Legende vom heiligen Trinker“ posthum erschien, ist der stimmige Schlusspunkt hinter einem „verhatschten Leben“, wie es die fiktive Fanny einmal nennt.

Jan Koneffke wohnt im Haus, in dem auch Joseph Roth lebte
Jan Koneffke wohnt im Haus, in dem auch Joseph Roth lebte © Imago
Jan Koneffke: Im Schatten zweier Sommer. Galiani, 304 Seiten, 25,50 Euro