Justine Triet hat in Cannes nicht nur eine, sondern gleich zwei Palmen gewonnen. Neben der goldenen der Jury holte sich der Film und sein Nebendarsteller nämlich auch noch die „Palm Dog“ für die beste schauspielerische Leistung eines Hundes. Im Kern ist der Film ein Gerichtsdrama und der Hund trägt darin entscheidend zur Aufklärung bei.

Anders als in Otto Premingers Filmklassiker „Anatomy of a Murder“, der für den Titel Pate stand, ist die Schuldfrage hier nicht von Anfang an klar. Alles beginnt am Ort des titelgebenden Sturzes, einem dreistöckigen entlegenen Landhaus in den französischen Alpen. Sandra Voyter, eine erfolgreiche Schriftstellerin, gibt einer jungen Studentin ein Interview. Laute Musik aus dem Obergeschoß unterbricht ihr Gespräch und die Studentin fährt zurück in die Stadt.

Die deutsche Autorin wohnt hier zusammen mit ihrem französischen Ehemann Samuel und ihrem elfjährigen Sohn Daniel, der an einer Sehbehinderung leidet. Wenig später kommt Daniel mit dem Hund von einem Spaziergang zurück und findet seinen toten Vater in einer Blutlache vor dem Haus vor.

Wie kam es dazu? Und warum? Recht schnell gerät Sandra in Verdacht, ihren Mann im Streit vom Balkon gestürzt zu haben. Doch die Verteidigung hat eine andere Erklärung parat. Regisseurin Justine Triet versucht die Schuldfrage – nicht nur im juristischen Sinne – in ihrem Verfahrensdrama herauszuarbeiten. Die Vergleiche mit alten Meistern wie Alfred Hitchcock und Co. sind angebracht, führen jedoch auch auf eine falsche Fährte. Denn Triet interessiert sich nebst Gerichtsthriller vor allem für das Familiendrama und die Rolle der Frau in diesem Familiendreieck.

Dabei hat die Regisseurin mit ihrem eigenen Lebensgefährten Arthur Harari als Co-Drehbuchautor und Sandra Hüller kongeniale Partner. 2023 ist das Jahr von Charaktermimin Sandra Hüller. Nach einer Rolle als Liebhaberin von Kaiserin Sisi in Frauke Finsterwalders Berlinale-Film „Sisi und ich“ war die Deutsche in Cannes gleich in zwei bemerkenswerten Wettbewerbsgewinnern mit dabei. Nebst Triets Palmen-Gewinner wirkte sie in Jonathan Glazers „The Zone of Interest“ mit, der den Grand Prix der Jury bekam. Darin spielt sie Hedwig Höss, die Frau des Auschwitz-Lagerkommandanten Rudolf Höss.

Ihre großartige Ambiguität trägt „Anatomie eines Falls“ von Anfang bis zum Ende. Wir sind auf ihrer Seite und uns doch nicht sicher, ob die Autorin autofiktionaler Romane hier nur eine Geschichte erzählt. Auch wenn etwas weniger europäische Zurückhaltung in den Thriller-Elementen und eine kompaktere Struktur nicht geschadet hätten, hält die Ungewissheit über diese Frauenfigur den 152 Minuten langen Film spannend.

Justine Triets Werk ist übrigens erst der dritte Film einer Regisseurin, dem die Goldene Palme in Cannes verliehen wurde. Nach diesem meisterlichen Film wird es nicht ihr letzter Preis sein.