Starker Tobak zum Einstieg: Ein wütender Mann hängt auf der Kühlerhaube eines Autos, die Vorderscheibe ist zerschmettert, eine Hand umklammert von außen das Armaturenbrett. „Nicht anhalten!“, sagt eine Frauenstimme. Ihr Ton duldet keinen Widerspruch. Die Stimme gehört Beate Winter (Lilith Stangenberg). So aufwühlend beginnt Sudabeh Mortezais dritter Spielfilm „Europa“. Aufgelöst wird die Szene erst am Schluss nach 98 pointierten und vielschichtigen Minuten. Am Ende hat man Mitgefühl mit diesem Mann; inklusive Wut.

Die Wiener Filmemacherin Mortezai beleuchtete schon in ihren vielfach ausgezeichneten semi-dokumentarischen Filmen „Macondo“ und „Joy“ nach intensiven Recherchen Milieus und die Menschen an den Rändern der Wohlstandsgesellschaft. In „Europa“, gedreht in Albanien mit großteils Laiendarstellenden, stellt sie große Fragen: Wie wollen wir leben? Welches Erbe hinterlassen wir den Jungen? Und welche Werte?

Das Publikum lernt Beate Winter als an Land und Leute interessierte Managerin des Konzerns „Europa“ kennen, die in einem Vortrag junge Frauen am Balkan ermutigt, sich fortzubilden und vom tristen Provinzalltag zu emanzipieren. In Wahrheit hat ihr Besuch Kalkül: Sie ist gekommen, um Land aufkaufen, Einheimische um ihre Existenz zu berauben und leer stehende Bunker aus der Ära des Diktators Enver Hoxha mit dubiosen Projekten zu beleben. Stangenberg, die zuletzt bei der Volkstheaterferkelei mit Paul McCarthy in Wien verstörte, liefert eine betörende, hinterfotzige Performance ab. Wie sie binnen Sekunden von der anteilnehmenden Person zur skrupellosen Landräuberin mutiert, ist stets an den Schrauben im Kopf drehendes, großes Kino; eingebettet in bildgewaltige Aufnahmen, furiose Laiendarstellende und ein exzellentes Drehbuch. Ab 2.11. im Kino.

Mehr zur Viennale