Der Wandel in der Arbeitswelt kam schleichend. Das war umso gefährlicher.  Leonie Weiss
Der Wandel in der Arbeitswelt kam schleichend. Das war umso gefährlicher. Leonie Weiss © Oliver Wolf

Balancieren musste Leonie Weiss bereits, bevor der Begriff Work-Life-­Balance überhaupt erfunden war. Die Notwendigkeit des feinen Austarierens sollte für die gebürtige Luxemburgerin in Österreich zur lebenslangen Prämisse werden.

Als 20-Jährige verließ die heute 63-Jährige ihre Heimat, um in Graz Chemie zu studieren. In Luxemburg war das Studienangebot nicht gegeben, ein Studienleben in angrenzenden Nachbarländern zu teuer. Dass es Weiss in die steirische Landeshauptstadt zog, erledigte der Zufall beziehungsweise der Grazer Botschafter, an den sie sich wandte. So konträr die Philosophie der digitalisierten ­Arbeitsgeneration von heute gegenüber jener analoger Babyboomer ist, so fremd mutete Weiss der Arbeitsalltag ihrer Eltern einst an: „Von meinem Vater wusste ich, dass er auch am Wochenende seinen Beruf ausüben musste, das wollte ich nach Möglichkeit vermeiden oder hinauszögern, solange es ging.“

Die Studienzeit lässt die heutige Pensionistin in der Retrospektive als vogelfreie Erkundungstour in ihrer Erinnerungsdatenbank vorbeiziehen. Dabei promovierte die Chemikerin bereits nach sieben Jahren. Nach dem Doktorabschluss erwartete Weiss ihr erstes Baby. „Eine Bremse“, wie sich die Luxemburgerin erinnert. „Die Welt schien mir plötzlich nicht mehr offen zu stehen.“ Mit einem Kind im Arm statt einer Balancestange in der Hand probte Weiss also ihren ersten Seiltanz. Um die Gunst des Arbeitnehmers. Auszeit von der Arbeitszeit gilt für die Babyboom-Generation als Fremdwort. Auch Leonie Weiss hatte keine Zeit dafür.

„Eine Karenz gab es in meinem Leben nie, finanziert habe ich mir alles aus der eigenen Tasche“, erinnert sie sich. Zur Berufung als Mutter kam deshalb auch die erste berufliche Beschäftigung hinzu. Damit sie trotz Kind direkt in die Arbeitswelt einsteigen konnte, forschte sie als befristete Postdoc-Angestellte an der Universität.
Ihre berufliche Existenz hat sie sich dabei im disziplinierten Alleingang aufgebaut. Halbtags mit Werkvertrag. Für die Versicherung musste sie selbst aufkommen. Auf das Kind passte währenddessen eine Tagesmutter, später der Hort des Vertrauens auf.

Aus dem Starthäuschen hatte sich Weiss in Bestzeit katapultiert. Was folgte, war die erste feste Anstellung. Während die Generationen Y und Z nomadengleich durch die Arbeitslandschaft ziehen und sich an fruchtbaren Berufsoasen für eine bestimmte Zeit niederlassen, um danach ihre Zelte wieder abzubrechen, sollte es für die Chemikerin die letzte Station sein.

Weiss arbeitete im Bereich der Medizintechnik. Dort entwickelte sie die Blutdiagnostik weiter, arbeitete an Sensoren und Proben. Sie ging damit ihrem leidenschaftlichen Forschungsfeld nach und lief somit gleichzeitig in ihrem Heimathafen ein. Fremde technologische Importe aus einer „fernen“ Welt sollten sich erst allmählich in diesen verirren. Die erste große Veränderung bekam Leonie Weiss in den 90er-Jahren zu spüren.

Der Stand-PC war erfunden. Damit einher ging eine erste grundlegende Umwälzung der bis dato vorrangig analogen Arbeitsgeschwindigkeit. Nach dem Babyboom kam der eigentliche Donner. Koordinatensystem und Tachometer wurden von der neuen Technik ausgewechselt. Die Erfindung des Internets und das Aufkommen der ersten Mobiltelefone sorgten in weiterer Folge für spürbar mehr Zeitdruck. Was zunächst als Erleichterung, zum Beispiel beim technischen Rechnen, auf positive Reaktionen stieß, wurde spätestens mit der Etablierung des Internets kritisch hinterfragt. Zu den eigentlichen beruflichen Verpflichtungen kam durch die elektronische Datenverarbeitung neue Arbeit hinzu. „Diese Veränderung war zunächst toll, dann schnell“, merkt Weiss an.

Die Veränderung war zunächst toll, dann  schnell.
Die Veränderung war zunächst toll, dann schnell. © Oliver Wolf

Die Datenbanken wurden größer. „Früher musste man Karteien durchforsten, in anderen Städten und Ländern anrufen, um an eine bestimmte Kopie zu kommen. Auf einmal war alles jederzeit erhältlich. Irgendwann musste ich feststellen, dass ich eine Stunde länger arbeiten muss“, erinnert sich Weiss. Geschuldet war das veränderte Arbeits­pensum vor allem der permanenten Erreichbarkeit. E-Mails warteten darauf, beantwortet zu werden, der Schreibtisch war nicht mehr an einer einzelnen Adresse gemeldet.

Junge Männer nehmen heute selbstverständlich Papaurlaub.
Junge Männer nehmen heute selbstverständlich Papaurlaub. © Oliver Wolf

Doch Leonie Weiss zeigte keinerlei allergische Reaktion auf diesen technischen Umbruch. Als Frau der Generation Babyboom zog sie zwischen der eigentlichen Arbeit und der privaten Zeit ohnehin nie eine klare Linie.

„Nach der Erfindung des Internets wurden die Fragen der Sicherheit neu gestellt. Iso-Zertifizierung, EU-Richtlinien und schriftliche Erklärungen standen auf der Tagesordnung. Das war weder lustig noch kreativ“, so Weiss. Das Gefühl, mit seiner Arbeit etwas bewirken zu können, drohte verloren zu gehen. Phasenweise fühlte sich die Luxemburgerin eher als Sekretärin denn als Forscherin der Chemie. Dennoch fand sie die Balance zwischen Naturwissenschaft und Bürobürokratie.

Als sie mit 40 Jahren schließlich ihr zweites Kind auf die Welt brachte, machten sich der Wandel in der Arbeitswelt und neue Anforderungen im Berufsprofil umso mehr bemerkbar. Baby und Job ließen sich nur mühsam vereinen. „Zu diesem Zeitpunkt musste ich feststellen, dass der eigentliche Wandel schleichend kam, was umso gefährlicher war. Auf die laute Neuerung kann man reagieren, aber das Leise überhört man.“ Familie und Arbeit waren zwar nach wie vor miteinander kompatibel, doch die Freizeit litt darunter. Eine Erfahrung, die ihr Verständnis für die anders denkenden junge „Digital Natives“, also Arbeitnehmer, die die moderne Computertechnik mit der Muttermilch oder spätestens im jungen Erwachsenenalter aufnahmen, bis heute stützt.

Der Generation Y, die zu dieser Zeit allmählich auf den Arbeitsmarkt drängte und auch Leonie Weiss neue Kollegen bescherte, sagt man heute eine Schwäche für die Muße nach. Weniger gut Gesinnte lassen in diesem Zusammenhang gerne Wörter wie Arbeitsscheu oder Illoyalität fallen. Egozentrik mache sich breit. Die Arbeit sei nebensächlich geworden.

Das Eintreten einer technisch und gesellschaftlich völlig anders sozialisierten Generation sieht Weiss bis heute gelassen. Weniger arbeiten wollte von ihren Kollegen bestimmt keiner. Lediglich die zeitliche Aufteilung hätte sich verändert. „Die Jungen wissen, dass sie länger arbeiten müssen“, attestiert Weiss. Auch die finanzielle Lage sei heute eine andere. Natürlich profitierten die Jungen als Erben.