Der Begriff Mobbing sagt mittlerweile jedem etwas, ist das Problem dadurch kleiner geworden?
FRANÇOISE D. ALSAKER: Der Begriff wird mittlerweile für alles verwendet, was mit Gewalt zu tun hat oder einfach nur ein Konflikt ist. Man sagt Mobbing, um auszudrücken, dass etwas schlimm ist. Die Verwässerung des Begriffs hat leider nicht dazu beigetragen, dass das Phänomen früher erkannt wird. Es ist paradox: Aber viele werden gemobbt, und das wird nicht entdeckt.
Gab es vor dem Begriff Mobbing ein anderes Wort dafür?
Als ich 1992 in die Schweiz kam und anfing, für Psychologen Kurse zum Thema zu machen, wurde von Gewalt unter Kindern und Gewalt an der Schule gesprochen - das traf es aber nicht wirklich. Es gibt nämlich viel Gewalt, die nichts mit Mobbing zu tun hat. Mobbing ist etwas sehr Spezielles und wurde ursprünglich nur im Arbeitsleben verwendet. Im Kindergarten- und Schulbereich handelt es sich an sich aber um das gleiche Phänomen.
Haben Sie heute ein deutsches Wort dafür?
Nicht wirklich. Ganz am Anfang habe ich in der Schweiz bei Mobbing von „Plagen“ gesprochen, das entspricht dem Phänomen ganz gut: Mobbing ist eine Plage, man bleibt dran, lässt nicht vom anderen ab, man plagt ihn.
Sie sagen, die Veranlagung zu diesem Verhalten hätten wir alle in uns - es gehe eher darum, es durch Erziehung zu verlernen als zu lernen.
Nicht die Veranlagung zu Mobbing steckt in uns, aber das aggressive Verhalten. Das sieht man schon bei Kindern zwischen 18 und 36 Monaten: Sie schlagen und schreien, beißen und kneifen, um etwas zu bekommen. Das ist in uns drinnen. Es gibt zwar Kinder, die das nie tun, aber das sind nicht viele. Die meisten haben eine Phase, in der sie in Erwachsenenaugen recht aggressiv wirken können. Die Aufgabe der Erziehung ist es nun, Kindern beizubringen, dass man seinen Saft oder sein Spielzeug auch bekommen kann, ohne zu beißen oder zu schlagen.
Was ist Ihre Lehre aus all den Jahren der Forschung zum Thema: Was macht ein Kind zum Mobbenden?
Hier muss man wieder zwischen Mobbing und Aggression unterscheiden: Dass ein Kind aggressiv bleibt, kommt von der Verstärkung - es lernt, was sich lohnt. Mobbing muss man immer im Rahmen eines Systems sehen: Ein Kind kann die Tendenz haben, sich aggressiv zu verhalten, das heißt aber noch lange nicht, dass es ein Mobber wird. Wenn etwa die anderen nicht mitmachen oder ein Erwachsener stoppt das Ganze, oder es sind ein paar Kinder dabei, die deutlich sagen: „So geht es nicht!“ Mobbing braucht immer ein Publikum.
Opfer kann jeder werden, es gibt keine spezielle Charakteristik, folglich auch nichts, was einen sicher schützt?
Richtig. Aggression steckt zwar im Kern von Mobbing, aber auch sehr aggressive Kinder werden oft Opfer. Unkontrolliert aggressive Kinder sind nämlich interessant für andere, die eher kontrolliert manipulativ sind und Kumpel haben, die mitmachen. Jedes Kind kann Opfer werden, wenn die Konstellation stimmt.
Trotzdem: Wenn Sie im Labor einen Charakter formen könnten, der weitgehend davor feit, Mobbing-Opfer zu werden, wie würde der aussehen?
Es wäre schön, wenn das ginge. Sagen wir es so: Es wäre eher ein Kind, das selbstsicher ist und auf Attacken gelassen reagiert. „Nein, das will ich nicht“ zu sagen, aber ohne große Emotion, das wäre eine gute Voraussetzung. Ein anderes wichtiges Element sind gute Freunde, die füreinander einstehen, aber das ist bereits ein Merkmal der Umgebung und nicht mehr nur des Kindes. Ich kenne allerdings Geschichten von gut angepassten, selbstsicheren Kindern, die in eine neue Klasse kamen und sich plötzlich in der Hölle des Mobbings wiederfanden. Im Optimalfall gelingt es diesen Kindern, Hilfe von einem Lehrer zu bekommen, sonst ist die Situation fast aussichtslos.
Erwachsene können also viel gegen Mobbing unter Kindern tun?
Auf jeden Fall. Es muss im Kindergarten und in der Schule eine eindeutige Anti-Mobbing-Haltung geben. Man muss klar zum Ausdruck bringen, dass es feige ist, wenn mehrere gegen einen vorgehen. Was bitte soll die Heldentat dabei sein? Über Mobbing zu reden und zu erklären, was das ist, ist die beste Prävention. Wer eine Scheu hat, gleich den Begriff Mobbing zu verwenden, kann einfach über Verhalten sprechen,
das einem guttut, und solches, das einen verletzt. Es geht darum,
eine Norm festzulegen, die alles repräsentiert, was Mobbing nicht ist. Man darf keine Angst haben, selbst bei kleinen Vorfällen, die dagegen
verstoßen, zu intervenieren.
Man kann gar nicht zu früh intervenieren?
Nein. Meine Botschaft lautet: „Gehen Sie immer von der eigenen
Perspektive aus!“ Sagen Sie zum Beispiel: „Ich weiß nicht, warum du das jetzt machst, aber was ich sehe, finde ich nicht gut.“Wenn man etwas
bemerkt, was nicht stimmt, muss man genauer hinsehen und darüber reden – und Kindern Bescheid geben, was man davon hält.
Wenn die Lehrpersonen beim Mobbing wegschauen, kann mein sein Kind letztlich nur von der Schule nehmen?
Das werde ich oft gefragt. Ich sage darauf immer: Es ist schwierig, etwas zu machen, wenn die Schule und die Lehrpersonen nicht mitspielen. In
dieser Situation kommt man manchmal an den Punkt, wo man einfach nur noch sein Kind schützen muss und es deshalb von der Schule nimmt.
Aber das sollte nicht sofort geschehen. Eigentlich, wenn schon ein Schüler versetzt werden sollte, sollte es ja nicht der Gemobbte sein, sondern
der Anführer des Mobbings. Wenn die Lehrpersonen nichts unternehmen, geht das Mobbing in der Klasse ja weiter – mit einem neuen Opfer. Das
Problem bleibt bestehen, solange der Mobber, seine Helfer und das Publikum da sind.
Es ist nie zu spät, das Problem zu lösen, wenn es die Erwachsenen wollen?
Ganz genau. Vor ein, zwei Jahren hatte ich ein Gespräch mit einem Psychologen, der schon lange in der Krisenintervention arbeitet. Er meinte, am Anfang seiner Arbeit hätte er geglaubt, es gebe Situationen, die nicht lösbar sind. Heute sagt er: „Nein, man kann alle Situationen
lösen, wenn ein Wille da ist.“ Das fand ich sehr bestätigend. Schließlich ist das jemand, der schon mit den schlimmsten Situationen konfrontiert
war.
Das Geheimnis ist, bei Mobbing nicht nach dem Schuldigen zu suchen?
Schuldzuweisungen sind kontraproduktiv, weil es beim Mobbing zwar einen Anführer gibt, aber dieser könnte ohne Helfer nicht aktiv werden. Die Schuld liegt nicht bei einer Person allein – es ist ein ganzes System. Alle müssen einsehen, dass sie ein Teil des Problems sind. Die Kinder müssen sich auf einen Vertrag einigen, in dem drinsteht, was im sozialen
Miteinander guttut und was man eher unterlassen sollte: zum Beispiel andere auslachen. Diese Regeln funktionieren aber nur, wenn die Kinder selbst über mehrere Diskussionen dazu gekommen sind. Das ist auch eine sehr gute Übung in Moralerziehung.
Welche Vorwürfe müssen sich Eltern machen, deren Kind mobbt? Ist das ein Versagen der eigenen Erziehung?
Ich rede nicht gern von Vorwürfen, sondern lieber von Verantwortung. Was ist meine Verantwortung, wenn ich sehe, dass mein Kind andere mobbt? Die Eltern entdecken das Mobbing aber meistens nicht selber,
es kommt also immer als Überraschung, ist meistens ein Schock.
Und wie geht man damit am besten damit um?
Indem man ernsthaft mit seinem Kind redet, es zwar nicht verurteilt, schon aber sein Verhalten – und zwar ganz klar. Danach trifft man am besten eine Abmachung miteinander, wie es weitergehen soll, was das Kind zu erwarten hat, wenn es sich nicht ändert – aber auch positiv, wenn es sich ändert.
Ein mobbendes Kind, das nicht gestoppt wird, mobbt mit großer Wahrscheinlichkeit auch als Erwachsener?
Wenn ein Kind in so ein Muster hineinkommt und immer wieder ein paar Mitspieler findet, ist die Chance zumindest groß, dass es das Muster beibehält. Es gibt immer wieder Möglichkeiten zur Veränderung, aber wenn man nie erfährt, dass dieses Verhalten nicht tolerierbar ist: Warum
sollte man es dann ändern?