Kulturelle Identität ist zu einem Kampfbegriff des Populismus geworden. Die Philosophin Ursula Renz wagt sich an eine Diskussion des umstrittenen Begriffs und legt mit ihrem Buch „Was denn bitte ist kulturelle Identität?“ den Versuch einer „Orientierung in Zeiten des Populismus“ vor. Eines der Ergebnisse ihres Essays: „Obwohl kulturelle Prägungen einen großen Einfluss auf uns ausüben und unser Leben nachhaltig prägen, ist es irreführend zu glauben, es ginge dabei um eine Frage unserer Identität.“
Im vorliegenden Essay unterzieht Ursula Renz (Institut für Philosophie der Universität Klagenfurt) die Rede von der kulturellen Identität einer kritischen Prüfung, indem sie damit zusammenhängende Begriffe und Probleme systematisch erörtert. Am Beginn steht der Begriff der Identität, den Philosophinnen und Philosophen nicht vom Substantiv ‚Identität‘, sondern von Aussagen wie „A ist identisch mit B“ herleiten. Solche Aussagen machen wir im Alltag nicht nur mit Blick auf Personen oder Gruppen. Wir sagen auch von Alltagsgegenständen: „Das ist dasselbe wie das.“ Oder „S hat in derselben Kirche geheiratet wie Q.“ Solche Aussagen brauchen wir, um angesichts der Vielfalt von Eindrücken unsere Sicht der Welt zu ordnen. Annahmen bezüglich der Identität von Dingen stabilisieren, so Renz, den Gegenstandsbezug unseres Denkens und Handelns. Wir könnten in der Welt nicht bestehen ohne den Begriff der Identität.
Renz diskutiert ferner, wie die Identität an die Zuschreibung von wesentlichen Eigenschaften gekoppelt ist. Ihre Grundannahme ist die folgende: Wenn ein Ding – unserer Auffassung zufolge – „seine Identität verliert“ und (quasi) ein anderes wird, so geschieht nichts anderes, als dass eine wesentliche Eigenschaft durch eine andere ersetzt wird.
Komplizierter wird es, wenn dieses Denkmuster auf (andere) Menschen angewandt wird. Zwar werden Personen grundsätzlich auf genau dieselbe Weise als mit sich identisch – oder eben nicht – aufgefasst wie etwa andere Dinge: verliert jemand eine Eigenschaft, die wir als wesentlich für ihn erachten, dann haben wir ein Problem damit, ihn noch als dieselbe Person wie früher zu begreifen. Trotzdem ist die Rede von der Identität anderer Personen heikel, denn, so Renz: „Menschen müssen für sich selber klären, was sie als wesentliche Eigenschaft ihrer Person auffassen. Nach unserem Konzept für Personalität bezeichnen wir als Personen jene Dinge, von denen wir annehmen, dass sie selber bestimmen können, was sie selbst ausmacht.“ Dies gelte allgemein für Auffassungen darüber, was oder wer ich bin, es ist aber von besonderer Bedeutung, wenn es um die Festlegungen von Personen wie die Verpflichtung auf Werte oder Weltanschauungen geht. Menschen würden zwar ihre Identität nicht frei wählen, wohl aber selber artikulieren, als was oder wie sie sich sehen.
In Diskussionen zu kultureller Identität geht es nach Renz häufig um genau diese Eigenschaften; die Rede ist von Weltanschauungen und Wertvorstellungen, die meist „der“ Gesellschaft zugewiesen werden, zu denen wir uns aber individuell verhalten. Konflikte sind da oft vorprogrammiert. Eigenschaften von Personen, die wir mit einer Kultur assoziieren, seien letztlich Ausdruck individueller Festlegungen. Dazu kommt, dass die Rede von der Identität einer Gruppe heikel ist, denn, so Ursula Renz: „Gruppen sind grundsätzlich sehr komplexe ‚Dinge‘. Je komplexer ein Ding ist, umso mehr gehören Prozesse, die Wandel voraussetzen, zu seinen wesentlichen Eigenschaften.“ Renz stellt einen Vergleich an: Während es zur Identität eines Kreidestrichs mit sich selber gehört, dass er gleich lang bleibt, müssen Bäume wachsen, um sich am Leben zu erhalten und weiterhin Bäume zu sein. Ein Land bzw. eine Kultur sei für sie weniger ein Kreidestrich als ein Wald, der, um zu überleben, lebende Bäume versammeln muss, die wiederum wachsen und sich an Veränderungen der Umwelt anpassen können.