Vor kurzem fragte mich eine junge Südamerikanerin, was es denn mit der Berliner Mauer auf sich hatte. Also erzählte ich ihr vom Ende des Zweiten Weltkrieges, von der Aufteilung Deutschlands in Besatzungszonen, von der Errichtung des DDR-Regimes, vom Kalten Krieg. Schließlich landete ich bei Gorbatschows Glasnost, Mocks symbolischem Stacheldraht-Durchschneiden und dem Mauerfall.

Wir saßen beim Bier am Spree-Ufer und genossen die Abendsonne im ungeteilten Berlin. Schon während des Erzählens kam mir der ganze „Ostblock“ rückblickend völlig absurd vor. Wie absurd musste das erst auf meine lateinamerikanische Zuhörerin wirken! Ein durch Mauern und Stacheldraht geteiltes Europa, in dem sich ein kapitalistischer Westen und ein kommunistischer Osten mehr oder weniger feindselig gegenüberstanden.

Über Jahrzehnte waren wir das klamme, etwas kribbelnde Gefühl gewöhnt, wenn wir als westliche Devisenbringer die Grenze zu Jugoslawien, zur Tschechoslowakei oder zu einem anderen Ostblockland übertraten. Wir ertrugen die kleinen Feindseligkeiten und Schikanen, in der behaglichen Gewissheit, dass wir jedenfalls wieder in unser freies Land zurückkehren konnten, während die Osteuropäer von Reise-, Meinungs- und anderen Freiheiten nur träumen konnten. Wir lästerten über die Buffets und die Hotelzimmer in sozialistischen Urlaubsparadiesen, schüttelten den Kopf über graue, verfallende Stadtzentren und belächelten die „Ossis“ mit ihren altmodischen Frisuren und Kleidungsstücken, mitsamt ihrer Trabbis.

Und angesichts der hölzernen kommunistischen Apparatschiks erschienen uns die eigenen Politiker schlagartig sympathisch.

Natürlich hatten wir auch unsere Sorgen und Probleme, aber wir konnten sie zumindest auf freie und demokratische Weise äußern, während im Osten die Sorgen und Probleme mit Panzern niedergewalzt wurden. Daran sollten wir denken, wenn wir heute weitgehend ungehindert durch die vielgescholtene, aber friedliche Europäische Union reisen.

Als ich 1989 den Fall der Berliner Mauer im Fernsehen mitverfolgte, war ich gerührt. Ich spürte unbewusst, dass hier eine Zeitenwende stattfand, deren Zeuge ich war. Und auch heute noch bin ich gerührt, wenn ich die Bilder von damals sehe.

Die Ostdeutschen hatten es geschafft, mit friedvoller Beharrlichkeit eine Diktatur zu stürzen, ganz ohne Gewalt und Blutvergießen. Was für eine zivilisatorische Leistung für ein Volk, das im selben Jahrhundert in zwei gewaltvolle Weltkriege verstrickt war, inklusive der Zugehörigkeit zur Nazi-Diktatur. Diese friedliche Revolution war, wie man weiß, der Anfang vom Ende des Ostblocks. Es waren konkrete mutige Menschen, die unter hohem Risiko diesen Systemwechsel bewirkten.

Unser Land ergeht sich traditionell eher in wehleidigem Suderantentum als in Revolutionen, und seien es friedliche. Revolutionen finden in Österreich bei Kaffee und Kipferl statt, und auch die nur in Gedanken. Unser demokratisches System, einschließlich des Zustandes der Medien, ist mangelhaft, aber es genügt offenbar, damit Österreich beständig eines der reichsten und sichersten Länder der Welt ist. Bei allen berechtigten Sorgen und Ängsten ist es doch so, dass wir aus einer Mittelstands-Komfortzone heraus lamentieren, um die uns viele beneiden.

Und dass wir in diesem Komfort leben, ist weder dem Zufall noch Gott noch den „Umständen“ geschuldet, sondern konkreten Menschen, die sich irgendwann einmal für die Vision eines besseren Lebens eingesetzt haben. Teilweise unter Einsatz ihres eigenen Lebens.

Und ja: Darunter sind etliche Politiker und Funktionäre, die ihr Amt ernst genommen und tatsächlich etwas für das Gemeinwohl getan haben - auch wenn das nicht gern gehört wird in Zeiten des allgemeinen Politiker-Verächtlichmachens.

Viele von uns Bürgern sind zu verwöhnten Binkeln geworden, die um nichts kämpfen außer um ihre Besitzstände, und die keine Lust haben, sich in irgendeiner Form an unserer Zivilgesellschaft zu beteiligen. Dass unsere Freiheit aber kein geschenktes Gut ist, vergessen sie. Daran erinnert uns jeder Rest von Mauer oder Stacheldraht - in Berlin und anderswo in Europa.