Der Magistratsdirektor ließ den Bürgermeister in sein Büro kommen. Ja, so waren hier die Verhältnisse, denn dem Magistratsdirektor war es schon immer egal gewesen, wer unter ihm Bürgermeister war. Der Bürgermeister hatte ein wenig schwitzige Hände – irgendwie roch dieser Termin nach Problem. Und er sollte sich nicht irren. Der Magistratsdirektor setzte seinen Bürgermeister in Kenntnis, dass er das gesetzliche Pensionsalter erreicht habe und nun unverzüglich in Pension gehen werde. Der Bürgermeister fiel aus allen Wolken. Wie konnte so etwas passieren? Wie konnte der höchste Beamte der Stadt das gesetzliche Pensionsalter erreichen, ohne dass es irgendjemand merkte? Der Magistrat und seine 1800 Bediensteten kopf- und führerlos, von einem Tag auf den anderen – eine Schreckensvorstellung. Niemand im Haus hätte mehr gewusst, wie man einen Reisepass ausstellt oder die Hundesteuer einhebt.

"Das kannst du uns doch nicht antun!", rief der Bürgermeister. "Doch", sagte der Magistratsdirektor, und sein Wort hatte Gewicht, denn er war Jurist. Seinen Reptilienaugen entging nichts in der Stadt. Er ließ nichts durchgehen, niemandem. Er kannte jeden und er kannte sich aus. Und er wusste einiges über einige. Und der Bürgermeister wusste nicht viel. Aber dass der Magistratsdirektor etwas wusste, das wusste er. "Niemand außer dir kann einen stabilen Betrieb im Rathaus sicherstellen", sagte daher der Bürgermeister. Der Magistratsdirektor sah sein weinerliches Gegenüber und grinste. "Da hast du recht", antwortete er, "also, was schlägst du vor?" Der Bürgermeister erbat sich, eine Nacht darüber zu schlafen.

Kein Beraterstab auf Amazon

Zurück in seinem Büro überfiel den Bürgermeister die Panik. Er wusste, jetzt war entschlossenes, unverzügliches Handeln angesagt. Also ging er mit seinem Kumpel Tennis spielen. Nach zwei Stunden Vollgas ging es ihm besser. Frisch geduscht saß er auf seinem Bürgermeistersessel und überlegte, was zu tun sei. Sollte er auf seinen Beraterstab zurückgreifen? Er hatte diesen Begriff einmal irgendwo gehört und war gleich begeistert, doch als er auf Amazon so einen Stab bestellen wollte, gab es ihn nicht.

Wie gerne hätte er Jörg jetzt angerufen. Seine Nummer hatte er noch immer im Handy gespeichert. Irgendwie schaffte er es nicht, sie zu löschen. Er hätte jetzt eine Krisenfeuerwehr gebraucht, doch sein alter Kumpel von der Feuerwehr war inzwischen eher ein Brandbeschleuniger. Der Bürgermeister öffnete den Tresor. Konnte er vielleicht auf den Erfahrungsschatz seiner Vorgängerin zurückgreifen? Doch der Tresor war leer. Das einzige, was sie ihm hinterlassen hatte, waren die herabgezogenen Mundwinkel als Zeichen der Bürde dieses Amtes. Auch die Bürgermeisterbibliothek half nicht, denn da standen nur die Chroniken der 15 Partnerstädte. Was für ein Elend: Er war die Nummer eins der Stadt, und er war völlig allein mit seiner Entscheidung. Traurig fuhr der Bürgermeister nach Hause. Seine letzte Hoffnung war, dass er etwas träumen würde, was ihm weiterhelfen könnte.

Notfallparagraf

Am nächsten Morgen erinnerte er sich ganz genau: Er hatte von einer Ballmaschine geträumt: Flopp. Flopp. Flopp. Da war er: der Hinweis! Der Bürgermeister ging Tennis spielen, und danach hatte er einen völlig klaren Kopf. Es gab nur einen Menschen, der kompetent genug war, ihn in dieser komplizierten Sache zu beraten: Er rief den Magistratsdirektor an. Dieser war gerade dabei, sich selbst seine 800 Mehrstunden auszubezahlen. Denn nur ein Idiot griff heimlich in die Stadtkasse. Der juristisch Gebildete tat es offiziell und rechtlich abgesichert. Der Magistratsdirektor hörte sich das Gejammere des Bürgermeisters eine Weile an, dann sagte er zwei Worte ins Handy: "Paragraf dreiundsiebzig." Der Notfallparagraf! Dass ihm das nicht selber eingefallen war!

Der Bürgermeister handelte entschlossen und unverzüglich: Er verlängerte den Vertrag des Magistratsdirektors um drei Jahre, denn der kluge Mann baut vor. Am Nachmittag ging der Bürgermeister zur Beruhigung ins Tierheim, arme Hunde streicheln. Auch der Magistratsdirektor machte zur Feier des Tages früher Schluss. Sein Weg führte ihn in den Reptilienzoo. Wie faszinierend diese Reptilien waren. Diese Zähigkeit. Diese Langlebigkeit. Diese scheinbare Leblosigkeit. Diese kalten, undurchdringlichen Augen. So sehen Sieger aus, dachte er.