Unter den frisch herausgeputzten Jugendstilfassaden im Zentrum von Riga tanzt ein großes, graues Gebäude aus der Reihe: Die Wände im Erdgeschoss sind verwaschen, die Fensterscheiben gewähren keinen Einblick ins Innere. Der Eindruck täuscht nicht. Hier, in der Brīvības iela (deutsch: Freiheitsboulevard) befand sich zu Sowjetzeiten das Hauptquartier des ehemaligen Komitees für Staatssicherheit (KGB). 186 Menschen wurden hier getötet,  erzählt Historikerin Inese Dreimane. Inhaftiert wurde, wer verdächtigt war, die kommunistische Ideologie abzulehnen. Darunter war zum Beispiel ein Lesezirkel, der durch sein Interesse für französische Bücher aufgefallen war. Aber auch aufgrund von religiöser Überzeugungen und beruflicher Positionen während der Zeit vor dem Zweiten Weltkrieg konnte man verhaftet werden. Erst 1990, kurz vor dem Zusammenbruch der Sowjetunion, verließ der letzte Gefangene das Gebäude.

Der Innenhof im KGB-Haus, wo die Gefangenen 10 Minuten am Tag ins Freie durften.
Der Innenhof im KGB-Haus, wo die Gefangenen 10 Minuten am Tag ins Freie durften. © Braunecker

Heute herrscht Aufbruchstimmung

Heute, knapp 30 Jahre später, befindet sich im sogenannten „Eckhaus“ ein Museum, das den Gräuel der Besatzungszeit gedenkt. In der modernen Innenstadt selbst ist davon nicht mehr viel zu spüren. Die neue  Generation will zum Westen gehören - und die Vergangenheit endlich hinter sich lassen. Die Veränderung, die in der lettischen Mentalität stattgefunden hat, kommt deutlich zum Ausdruck, wenn man sich mit jungen Letten unterhält. „Wir wollen nicht mehr als armer Ex-Sowjetstaat wahrgenommen werden, in dem alle nur Russisch sprechen“, sagt zum Beispiel Janis Kreilis aus Riga. Der Jungunternehmer ist noch unter der sowjetischen Besatzungsmacht aufgewachsen, als es nur wenig Raum für Kreativität und Unternehmertum gab.  „In meiner Kindheit war Lettland im Vergleich zum Westen sehr arm“, erinnert sich Kreilis. Einmal sei er mit seiner Familie nach Berlin gereist, und habe ein Restaurant einer amerikanischen Fast Food-Kette besucht. Unfassbar teuer sei das damals für lettische Verhältnisse gewesen. Nach fast 30 Jahren Unabhängigkeit ist für ihn von dieser Kluft nicht mehr viel zu merken. „Wenn ich heute in ein Flugzeug steige und in ein anderes EU-Land fliege, fühle ich mich nicht mehr als Bürger zweiter Klasse, sondern als Europäer“, so der 31-Jährige.

"Plötzlich waren wir ein Teil vom Kapitalismus"

Mit dem Zusammenbruch der Sowjetunion fand ein schmerzhafter, aber notwendiger Übergang zur Akzeptanz von Innovation statt. „Wir Balten sind junge Länder, die in den 90er-Jahren aufgewacht sind. Plötzlich waren wir ein Teil vom Kapitalismus, wo es darum ging, sich etwas aufzubauen und erfolgreich zu sein“, erklärt Roland Mesters (30), Gründer des Fintech-Start Ups Nordigen. "Eine so massive Veränderung hat kaum einer der anderen EU-Staaten in den letzten Jahrzehnten erlebt. Wir sind rastlos, können es kaum erwarten, loszulegen." 900.000 Euro an Investitionen hat Nordigen seit 2016 erwirtschaftet. Vor rund einem Monat zog Mesters mit seinem Team in die Gustava Zemgala gatve, wo sich das IT-Zentrum von Riga angesiedelt hat. Seine Räumlichkeiten sind dort fast drei Mal so groß. Lettland sei ideal, um sein eigenes Unternehmen aufzubauen, ist Mesters überzeugt. Die Umgebung sei unterstützend, seitens der Regierung gebe es zahlreiche Steuererleichterungen. "Und da wir so ein kleines Land sind, ist die Vernetzung sehr einfach."

Rolands Mesters wusste schon mit 22 Jahren, dass er Unternehmer werden wollte.
Rolands Mesters wusste schon mit 22 Jahren, dass er Unternehmer werden wollte. © Braunecker

Die Aufholjagd funktioniert

Dass es Lettland immer besser gelingt, mit Westeuropa aufzuschließen, belegen wirtschaftliche Kennziffern. "Die Arbeitslosigkeit liegt mit sieben Prozent unter dem Wert von einigen westeuropäischen Ländern,  beim Pro-Kopf Einkommen hat man von 35 Prozent des EU-Schnitts auf 70 Prozent aufgeholt", sagt Gunter Deuber, Osteuropa-Experte der Raiffeisen Bank. Ein Lebensstandard wie in Portugal sei damit schon erreicht. Bei einer weiter positiven Entwicklung könnte man in etwa 10 Jahren auf ein Wohlstandsniveau von 80 Prozent des EU-Schnitts kommen. Dann wäre man bei einem Niveau von Tschechien oder Spanien angelangt.

Arbeitslosigkeit in ausgewählten EU-Ländern.
Arbeitslosigkeit in ausgewählten EU-Ländern. © Eurostat

Die Jungen wandern ab

Doch die Aufholjagd der Letten hat auch ihre Schattenseiten. Das größte Manko ist die Abwanderung der Jungen und Gebildeten: Laut UN Data ist die Bevölkerung Lettlands seit 2004 um ein Fünftel geschrumpft. Schuld daran ist unter anderem das europäische Recht auf Freizügigkeit, das es jedem EU-Bürger ermöglicht, in einem anderen EU-Land zu leben und zu arbeiten. Ulla Milbreta ist eine von ihnen. Sie studierte Medizin in Frankreich, um danach zehn Jahre in Singapur zu arbeiten. In Lettland gebe es kaum Arbeitsstellen für ihre Fachausbildung, so die 34-jährige. Vor einigen Monaten kehrte sie dennoch zurück, um ihrer Tochter ein Aufwachsen in einer gesunden Umwelt zu ermöglichen. In ihrem ursprünglichen Beruf arbeitet Milbreta jedoch nicht - sie hat ein plastikfreies Cafehaus gegründet. "Auch auf diese Weise kann ich etwas Positives in der Gesellschaft bewirken", sagt sie.

Lettland liegt beim Bevölkerungswachstum an letzter Stelle.
Lettland liegt beim Bevölkerungswachstum an letzter Stelle. © Eurostat

Die Folgen schmerzen

Der sogenannte Brain Drain hat jedoch gravierende Folgen für all jene, die in Lettland bleiben: Bereits jetzt herrscht ein massiver Fachkräftemangel, es fehlt an Ärzten und Bauarbeitern. Da potenzielle junge Eltern im Ausland sind, werden in Lettland selbst immer weniger Kinder geboren. Laut einer Vorhersage der UNO werden 2030 rund 40 Prozent der Letten über 50 Jahre alt sein. Wer wird dann für die Pensionen aufkommen? „Die Situation zwischen Ost- und Westeuropa ähnelt einem Boxkampf zwischen einem Leicht- und Schwergewicht. Natürlich verliert man, wenn man nicht dieselben Löhne bieten kann“, seufzt Kreilis.

Doch es geht auch umgekehrt

Das zeigt das Beispiel von Kristiana. Die Lettin ist mit 13 Jahren in ein englisches Internat eingezogen, absolvierte Schule und Studium in England. Vor einem halben Jahr kehrte sie nach Riga zurück, um hier ihr Doktorat zu machen. "Ich habe meine Familie und die Natur vermisst", erklärt die 26-Jährige. Was Lettland allerdings brauche, sei mehr Offenheit und Diversität, so die Heimkehrerin. Die Angst fremdbestimmt zu werden, sei in den Köpfen hierzulande immer noch vorhanden. Doch sie ist optimistisch: „Auch wir Letten werden von Jahr zu Jahr diverser und bunter“, sagt die Akademikerin.

Kristiana ist aus England zurückgekehrt, um ihre Dissertation in Riga zu schreiben.
Kristiana ist aus England zurückgekehrt, um ihre Dissertation in Riga zu schreiben. © Braunecker

Immer mehr kehren zurück

Kreilis blickt ebenfalls optimistisch in die Zukunft: „Wir müssen aufholen, daran führt kein Weg vorbei. Aber in ein paar Jahren wird sich die Lücke zwischen Berlin, Paris und Riga schließen. Die Zahl der Aus- und Einwanderer wird dann in etwa gleich sein.“ Das bestätigt Migrationsforscherin Baiba Bela.  „2017 lag die Zahl der Rückkehrer bei 4000, 2018 stieg sie auf 6000“, zitiert sie aus ihrem Forschungsbericht.
„Viele Letten kommen wieder in ihre Heimat zurück, weil sie ihre Kinder in der Natur aufwachsen sehen wollen. In welchem anderen Land hat man schließlich das Meer, den Wald und die Flüsse vor seiner Haustüre?“, sagt Kreilis. Ein weiterer Grund fällt dem jungen Letten ein: „Da wir nicht so viele sind, muss man bei uns mit dem nächsten Karriereschritt nicht warten, bis die Alten in Pension sind“, schmunzelt er. „In Lettland geht das mit dem Aufstieg sehr schnell.“

Die Schüler in Jelgava sind bereit für die Zukunft.
Die Schüler in Jelgava sind bereit für die Zukunft. © Braunecker

Die Welt wartet darauf, entdeckt zu werden

Und was sagen die Jüngsten? Beim Besuch eines Gymnasiums in Jelgava, eine  Stunde von Riga entfernt, fällt sofort auf: Hier sprechen schon die Elfjährigen akzentfrei Englisch. Sie werden es brauchen: Denn auf die Frage, wer seine Zukunft in zehn Jahren in Lettland sieht, antwortet über die Hälfte der Maturaklasse mit „Nein“. Der Grund, neben besseren Karrierechancen: „Wir wollen die Welt entdecken“, sagt Alise Kaktina (19), die neben Englisch, auch Chinesisch spricht. Diese Sehnsucht teilt sie mit vielen anderen Jugendlichen auf der ganzen Welt.

Diese Reportage entstand mit einem Stipendium von „eurotours 2019“, finanziert aus Bundesmitteln.

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