Ein Wort­ge­fecht ohne Sicht­kon­takt. Die Kon­tra­hen­ten sit­zen vor ihren Lap­tops, schär­fen Ar­gu­men­te und ge­hor­chen drei Re­geln:

ARMIN THURN­HER: Diese Frage kann ich mit einem herz­haf­ten So­wohl-als-auch be­ant­wor­ten. Na­tur­ge­mäß wird fast alles, was dem Staats­volk vom Staat als Pflicht auf­er­legt wird, von die­sem als Drang­sal emp­fun­den, von der Steu­er bis zum Buß­geld. So auch eine Impf­pflicht. Sie ist not­wen­dig ge­wor­den, weil die Re­gie­rung aus of­fen­sicht­li­chen Mo­ti­ven dabei ver­sagt hat, aus­rei­chend Men­schen von der Dring­lich­keit einer Imp­fung zu über­zeu­gen. Also muss­te sie im all­ge­mei­nen In­ter­es­se zum Mit­tel des Zwangs grei­fen, um die Pan­de­mie doch ir­gend­wann ein­mal zu be­en­den. Zu „Drang­sal“ und „Not­wen­dig­keit“ muss man also noch das Wort „Of­fen­ba­rungs­eid“ stel­len.

MI­CHA­EL FLEISCH­HA­CKER: Ich glau­be, in einer Zeit, in der es selbst­ver­ständ­lich ge­wor­den ist, jeden, der an­de­rer Mei­nung ist als man selbst, aus die­sem Grund als ge­fähr­li­chen Schwur­b­ler zu de­nun­zie­ren, soll­te man ver­su­chen, prä­zi­se zu blei­ben, lie­ber Thurn­her. Steu­ern und Buß­gel­der mit einer Impf­pflicht zu ver­glei­chen, ist ein biss­chen da­ne­ben, weil mög­li­cher­wei­se sogar Sie an­er­ken­nen wer­den, dass das Be­ste­hen auf die freie Ent­schei­dung über me­di­zi­ni­sche Be­hand­lun­gen noch nicht un­be­dingt einen neo­li­be­ra­len Ex­zess dar­stellt. Aber neben der abs­trak­ten Über­zeu­gung, dass der Staat seine Bür­ger nur in eng de­fi­nier­ten Aus­nah­me­si­tua­tio­nen – wir kom­men viel­leicht noch dar­auf zu spre­chen, ob es sich ge­gen­wär­tig um eine sol­che han­delt – gegen deren er­klär­ten Wil­len und unter An­dro­hung von Stra­fe zu einer me­di­zi­ni­schen Be­hand­lung zwin­gen darf, halte ich die jetzt ver­kün­de­te Impf­pflicht auch aus prag­ma­ti­schen Grün­den für falsch: Die Imp­fung ist das wirk­sams­te Co­vid-19-Me­di­ka­ment, das wir der­zeit zur Ver­fü­gung haben, aber eine Impf­pflicht wird die Pan­de­mie nicht be­en­den, die Po­li­tik ist also ge­ra­de dabei, den nächs­ten Schritt ins schwar­ze Loch des Ver­trau­ens­ver­lus­tes zu tun.

THURN­HER: Mit dem schwar­zen Loch mögen Sie recht haben. Aber zwei­fel­los hat der Staat das Recht, eine Impf­pflicht an­zu­ord­nen, und wenn seine Spit­zen­kräf­te der An­sicht sind, sie kön­nen das Pro­blem (die Pan­de­mie) nicht an­ders lösen, müs­sen sie es tun. Steu­ern und Buß­gel­der sind ja nur ein Bild dafür, dass der Staat dau­ernd in das ein­greift, was wir als un­se­re Frei­heit emp­fin­den. Er be­schränkt sie, um sie zu er­hal­ten, so­zu­sa­gen. Ana­log in der Ge­sund­heits­po­li­tik: Zu ge­wis­sen Ein­schrän­kun­gen ist der Staat ge­ra­de­zu ver­pflich­tet, wenn es um das Leben und die Ge­sund­heit sei­ner Bür­ge­rin­nen und Bür­ger geht.

FLEISCH­HA­CKER: Ich weiß, wenn der Staat un­se­re Frei­heit be­schnei­det, meint er es nur gut mit uns. Ich mag diese Art von Pa­ter­na­lis­mus aber nicht. Jeder Bür­ger hat die Mög­lich­keit, sich durch eine Imp­fung zu schüt­zen, der Staat muss dar­auf ach­ten, dass die Ri­si­ko­ent­schei­dun­gen der Bür­ger nicht zu einer Über­las­tung des Ge­sund­heits­sys­tems füh­ren. Das tut er am bes­ten, indem er, wenn er schon ein­grei­fen will, dafür sorgt, dass die Ri­si­ko­grup­pen ge­impft sind. Hätte man bis Sep­tem­ber alle Kin­der und Ju­gend­li­chen ge­impft, hätte man zwar eine Impf­quo­te knapp bei 80 Pro­zent, aber immer noch das­sel­be Pro­blem in den In­ten­siv­sta­tio­nen. Ich mag es nicht, wenn der Staat ver­sucht, sein ei­ge­nes Ver­sa­gen in kon­kre­ten Be­rei­chen durch harte Maß­nah­men für alle über­zu­kom­pen­sie­ren.

THURN­HER: Sie hat­ten doch Prä­zi­si­on ge­for­dert. Was man mag oder nicht, spielt dabei keine Rolle. (Ich mag nicht ein­mal Prä­zi­si­on, schät­ze sie aber bei mei­nem Zahn­arzt und bei Ju­ris­ten.) Der Staat hat die Pflicht, un­se­re In­te­gri­tät zu be­wah­ren. Tut er das, be­schnei­det er un­se­re Frei­heit, aber in le­gi­ti­mer Weise. Es ist ein klei­ner ar­gu­men­ta­ti­ver Trick, der mir or­dent­lich auf die Ner­ven geht, dass man il­le­gi­ti­me Frei­heits­be­schrän­kung (zum Bei­spiel der Mei­nungs­frei­heit) mit le­gi­ti­mer Frei­heits­be­schrän­kung (Schutz von Leib und Leben) gleich­setzt. Kommt gut in Talk­shows an, sorry, aber nicht bei mir.

FLEISCH­HA­CKER: Dann blei­ben wir beim Thema Schutz von Leib und Leben und blei­ben wir prä­zi­se. Das Pro­blem die­ser Impf­pflicht­de­bat­te ist doch, dass ihre Ak­ti­vis­ten (was sie ein biss­chen zu Schwur­b­lern macht, aber las­sen wir das) von der Il­lu­si­on aus­ge­hen, die Impf­pflicht würde dazu füh­ren, dass die Pan­de­mie per Her­den­im­mu­ni­tät be­en­det wird. Zu­letzt hat ges­tern wie­der der ORF-Chef­re­dak­teur, der uns sel­ten durch Bil­dungs­ex­zes­se be­schämt, auf das Bei­spiel der Po­cken ver­wie­sen. Wäre ein Impf­stoff ver­füg­bar, der ste­ri­le Im­mu­ni­tät und ab einer ge­wis­sen Durch­imp­fungs­ra­te die Aus­rot­tung des Er­re­gers ge­währ­leis­tet, wie bei den Po­cken (oder Ma­sern), wäre ich auch für eine Impf­pflicht. Aber die ver­füg­ba­ren Imp­fun­gen sind gute Me­di­ka­men­te mit einem mä­ßi­gen Trans­mis­si­ons­schutz. Also soll­te man sich dar­auf kon­zen­trie­ren, die­ses Me­di­ka­ment allen zu ver­ab­rei­chen, die es brau­chen. Dann hat man auf den In­ten­siv­sta­tio­nen kein Pro­blem mehr, denn die jetzt groß ge­brach­ten Fälle von ge­sun­den Jun­gen, die auf In­ten­siv lie­gen, sind sel­te­ne Er­eig­nis­se, die für kol­lek­ti­ves Ri­si­ko­ma­nage­ment keine Aus­sa­ge­kraft haben.

THURN­HER: Das eine ist das Grund­sätz­li­che, die „Be­schrän­kung der Frei­heit“. Die ist dem Staat er­laubt, Punkt. Ob sie in Form einer Impf­pflicht sinn­voll ist, ist wie­der eine an­de­re Frage. Ich will mich in keine epi­de­mio­lo­gi­sche De­bat­te ein­las­sen, weiß aber, dass von mir ge­schätz­te Fach­leu­te, wie Ro­bert Zang­er­le, in mei­ner Seu­chen­ko­lum­ne die Impf­pflicht für be­stimm­te Be­rufs­grup­pen be­für­wor­ten und vor allem eine Durch­imp­fung äl­te­rer und alter Men­schen (+65) für es­sen­zi­ell hal­ten, nicht aber eine all­ge­mei­ne Impf­pflicht. Die lässt sich als po­li­tisch-au­to­ri­tä­res Pla­ce­bo zwar ver­ord­nen, aber oh­ne­hin nicht kon­trol­lie­ren. Die­ses Pla­ce­bo kann nicht ver­ges­sen ma­chen, dass die kom­mu­ni­ka­tiv über­mu­ni­tio­nier­te Re­gie­rung Kurz 2 aus purem po­li­ti­schem Ei­gen­nutz bei der Imp­fung kom­mu­ni­ka­tiv total ver­sag­te.

FLEISCH­HA­CKER: Die Durch­imp­fung Äl­te­rer und unter den Jün­ge­ren, vor allem adi­pö­ser Men­schen, wäre der Kö­nigs­weg aus der Pan­de­mie ge­we­sen (so wie deren be­son­de­rer Schutz vor bald zwei Jah­ren). Die An­kün­di­gung der Impf­pflicht ist die Fort­set­zung der Mar­ke­ting­po­li­tik mit den be­schränk­te­ren Mit­teln der neuen Kanz­ler- und Mi­nis­ter­dar­stel­ler. Und ir­gend­wann hät­ten viel­leicht auch Wis­sen­schaft und Po­li­tik etwas lau­ter sagen sol­len, dass die Imp­fung (hof­fent­lich noch) nicht hält, was sie ver­spricht. „Boos­tern“ ist näm­lich auch Mar­ke­ting­sprech.

THURN­HER: Als drei­mal Ge­sto­che­ner ist mir wich­ti­ger, dass ich vier Mo­na­te nach den mir ver­ord­ne­ten As­tra­Ze­ne­ca-Sti­chen nun eine mR­NA-Auf­fri­schung be­kom­men habe. So be­trach­te ich das mich drang­sa­lie­ren­de Schau­spiel po­li­ti­scher Ver­ant­wor­tungs­lo­sig­keit wei­ter­hin mit der not­wen­di­gen Un­ru­he.

FLEISCH­HA­CKER: Ich be­trach­te Ihren über­bor­den­den In­di­vi­dua­lis­mus mit größ­ter Sorge, lie­ber Thurn­her, wün­sche Ihnen aber na­tur­ge­mäß das Beste. Ich hatte, als ich noch jung war, das Pri­vi­leg, eine Buch­rei­he mit­be­grün­den zu dür­fen, die „Bi­blio­thek der Un­ru­he und des Be­wah­rens“ hieß, ich werde die in­tel­lek­tu­el­le Un­ter­for­de­rung durch Kanz­ler und Ge­sund­heits­mi­nis­ter also noch eine Weile stoi­schen Ge­müts er­tra­gen.