Die Sonne scheint auf Stockholm. 17 Grad,  Sommer im Anmarsch. In der Arstabucht auf Södermalm glitzert  das Wasser verträumt vor sich hin. Noch ist es zu kalt zum Baden. Aber auf der Wiese am Wasser drängen sich die Menschen, dicht an dicht liegend oder sitzend,  gut gelaunt und ganz selbstverständlich genießen sie die Wärme. Ohne Abstand. Ohne Masken. Wer ein eindrückliches Bild vom schwedischen Sonderweg in der nun weit mehr als ein Jahr andauernden Pandemie sucht, ist an dieser Bucht genau richtig.

Die 27-jährige Paulina blickt von der Brücke nach Liljeholmen auf die Liegewiese hinunter. „Es ist so, als gäbe es kein Corona in Schweden. So war das fast die ganze Zeit“, sagt die Stockholmer Psychologiestudentin. Es schwingt Verwunderung in ihren Worten mit, aber auch etwas Stolz. „Nur vor Weihnachten war die Angst spürbar. Im Supermarkt machten die Leute auf einmal größere Bögen umeinander. Man wollte die Eltern nicht anstecken. Zum Osterbesuch war die Vorsicht dann wieder weg“, sagt Paulina.

Keine Hamsterkäufe

Tatsächlich haben sich die Schweden in der Zeit der größten Krise einen besonderen Ruf erworben. Bis heute gab es in Schweden keine Maskenpflicht, auch ein härterer Lockdown ist anders als im Rest Europas nie verfügt worden. Es gab auch keine Hamsterkäufe, keinen Klopapiermangel, kein apokalyptisches Lebensgefühl. Natürlich  beherzigen die Schweden die Hygieneregeln. Und auch die Bitte, Menschenansammlungen zu vermeiden, befolgen viele. U-Bahnen, Busse und Stadtzentren sind in diesem einen Jahr tatsächlich deutlich leerer gewesen als sonst.

"Lockdown-Flüchtlinge" beim Friseur

Aber Fitnessstudios, Kinos, Kindergärten und Schulen bis einschließlich neunter Klasse blieben geöffnet. Und natürlich die Friseursalons. In denen ließen sich ausländische Lock­down­flücht­linge „gleich nach der Ankunft die Haare schneiden“, erinnert sich Ewa Karlgren vom Salon Hargänget in Södermalm amüsiert.

Auf deutschen „Querdenken“-Demos wehen deshalb regelmäßig schwedische Fahnen. „Wir Schweden haben nicht richtig verstanden, wie groß das alles in der ganzen Welt gespielt wird“, räsoniert Taxifahrer Nisse Olsson (68), der seine Gäste zu den Beatles aus dem Radio transportiert. Natürlich ohne Mund-Nasen-Schutz oder gar Plexiglasscheiben vor der Fahrerkabine.

Deutlich höhere Todeszahlen

Mit 1. Juni sind nun weitere Beschränkungen gefallen. Schweden macht sich noch lockerer. Und das trotz Inzidenzen von aktuell über 140 Infektionen pro Hunderttausend Einwohnerinnen und Einwohner. Insgesamt sind in Schweden mit 1430Menschen pro einer Million Einwohnerinnen und Einwohner deutlich mehr Menschen gestorbenals in Österreich mit 1177 oder in Deutschland mit 1050 Toten pro einer Million.

Einschätzung

Was also ist nun, nach mehr als einem Jahr Corona-Epidemie und ihrem hoffentlich baldigem Ende, vom schwedischen Sonderweg zu halten? War es tatsächlich das riskante russische Roulette, als das es seine Kritiker beschreiben? Ist es, anders herum, das Lehrstück für freiheitliche Gesellschaften und Eigenverantwortlichkeit der Bürgerinnen und Bürger, als das es seine Bewunderer sehen? Oder ist es ein Mittelding?

Verantwortlich für den ungewöhnlichen Kurs ist Schwedens Chefepidemiologe Anders Tegnell. Der Wissenschaftler ist nicht nur Ratgeber der Regierung, er ist direkt für die Corona-Bekämpfung zuständig. Er hat durchaus wahrgenommen, dass sein Kurs im Ausland viel Kopfschütteln hervorgerufen hat. „Der schwedische Weg stellt die jeweils eigene Strategie anderer Länder infrage. Das wollte ein Teil der Auslandspresse vermeiden, so meine Vermutung“, sagt Tegnell.

Die Bevölkerung zumindest steht in der großen Mehrheit hinter dem Epidemiologen. Schweden habe Corona im Griff und sei die richtige Strategie gefahren, sagen die meisten Menschen in Umfragen. Trotz hoher Inzidenz und obwohl König Carl XVI. Gustafdie Strategie für „gescheitert“ erklärte.

Bei den Altenheimen versagt

Allerdings hat sich das Bild über die Zeit differenziert. So ist man auch in Schweden mittlerweile der Meinung, dass das Land in einem Punkt tatsächlich versagt hat: Die Regierung schützte die Altenheime zu spät. Rund die Hälfte der 14 500 Covid-Toten waren Seniorinnen und Senioren, die in Altenheimen wohnten. Viele von ihnen starben in der allerersten Phase. Allein in Stockholm gelangte das Virus über infiziertes Pflegepersonal zeitweise in mehr als ein Drittel aller Heime. Als dann endlich Masken für Pflegekräfte besorgt worden waren, verweigerte die Gewerkschaft zunächst ihre Zustimmung. Wegen verschlechterter Arbeitsbedingungen.

Komplex

Zweierlei aber muss man wissen: In Schwedens Altenheimen leben besonders hochbetagte, besonders schwache Menschen. Der Wohlfahrtsstaat ermöglicht den Bürgerinnen und Bürgern das Zuhausebleiben so lange wie nur möglich. Altenpflegekräfte sind zudem oft nicht fest angestellt und werden pro Stunde bezahlt. Sie kamen zu Pandemiebeginn auch mit Symptomen oft ungeschützt zur Arbeit. Viele sind aus der ärmsten Gesellschaftsschicht, haben einen Migrationshintergrund und wohnen mit vielen anderen Menschen auf engem Raum. In dieser Gruppe hatte sich das Virus dem Gesundheitsamt zufolge zeitweise besonders stark ausgebreitet.

WHO-Nothilfechef Michael Ryan hält es aber für falsch, Schwedens Grundstrategie allein wegen der anfänglich hohen Zahl der Toten in den Altenheimen zu verdammen: „So wie viele andere Länder in Europa wurde auch Schweden von besonders vielen Erkrankungen in der Altenpflege getroffen. Das ist tragisch, aber nicht einzigartig. Das muss genau untersucht werden. Die Alten sterben in ganz Europa.“

Schon lange in der Kritik

Staatsepidemiologe Tegnell verteidigt denn auch den liberalen Weg. „Der Grund für die vielen Toten waren punktuelle Schwachstellen zum Beginn der Pandemie beim Infektionsschutz in Altenheimen“, sagt er. In der Tat stehen Schwedens zumeist privatisierte Heime seit Langem wegen schlechter Bedingungen in der Kritik.

Tegnell erklärt, man habe an dem liberalen Weg festgehalten und heute eine minimale Covid-19-Rate in Altenheimen. Das sei ein klares Indiz dafür, „dass auch die schwedische Strategie die Ausbreitung in Altenheimen verhindern kann. Ohne Lockdown.“ Und außerdem, betont Tegnell, „hatten einige europäische Länder relativ zur Gesamtbevölkerung höhere Todesraten als wir – trotz harten Lockdowns“.

Eine Studie der Universität Stockholm zur Übersterblichkeit in Europa für 2020 gibt ihm eher recht. Demnach hatten zwei Drittel aller europäischen Länder bedeutend höhere Übersterblichkeitsraten zu verzeichnen als Schweden. „Es zirkuliert ein Mythos, dass Schweden besonders hart getroffen wurde. Das stimmte für den Mai 2020. Aber jetzt nicht mehr“, sagt Studienleiter Fredrik Ljungqvist. Andere Länder, auch Deutschland, hätten leider stark bei Todeszahlen aufgeholt. Übersterblichkeit gilt als robuster Indikator; sie zeigt, wie viele Menschen im aktuellen Jahr gestorben sind im Vergleich zu den vergangenen vier Jahren.

Unterschiede gering

Auch im Pandemieverlauf sind die Unterschiede zum Lockdown­europa überraschend gering. Im  letzten Sommer sanken die relativen Covid-Werte für Tote und Intensivpatienten auch in Schweden deutlich ab. Genauso wie in Lockdownländern. Wie im Rest Europas stiegen sie dann zur zweiten Welle vor Weihnachten an. Wie überall gehen sie jetzt wieder zurück.

Doch bereits seit Mitte August 2020 liegt Schwedens wöchentlich hinzukommende Totenzahl laut „Our World in Data“ zumeist gleichauf mit der deutschen Rate. Seit Anfang Februar sterben in Schweden pro Woche sogar weniger Menschen (aktuell 1,2 je einer Million Einwohner) als in Deutschland (1,9).

Rasche Impfung, niedrige Bevölkerungsdichte

Wie ist das möglich? Vor allem die zügige Impfung hat offenbar zur Entspannung beigetragen. 45 Prozent der Bevölkerung haben ihre erste Dosis bekommen, 17 Prozent die zweite. Zudem ist Schweden viel dünner besiedelt als Deutschland.  „Bis zu 40 Prozent“ haben laut Tegnells Schätzung Corona gehabt und seien immun. Das Gesundheitsamt spricht vom Ansatz einer Herdenimmunität, die in vielen Ländern als unrealistisch angesehen wird.

Homeoffice freiwillig - und trotzdem weiter verbreitet

Außerdem gibt es auch ohne Lockdown viele freiwillige Vorsichtsmaßnahmen. So arbeitete im Januar etwa ein Viertel der Berufstätigen in Deutschland im Homeoffice – in Schweden war es mehr als die Hälfte (53 Prozent). Unterm Strich ist der Sonderweg also an einigen Stellen gar nicht so sonderbar. Nur dass es in Schweden offenbar mehr Einsicht und weniger staatliche Verordnungen gab.

In der Pandemie waren die Politikerinnen und Politiker aller Parteien von Anfang an sehr zurückhaltend. Die Fachleute des Gesundheitsamtes übernahmen fast vollständig das Steuerrad und orientierten sich teilweise am Management früherer Epidemien, etwa Ebola-Ausbrüchen in Afrika. „Ich glaube insgesamt nicht an Verbote“, sagte Schwedens Gesundheitsamtschef Johan Carlson. Seine Amtskolleginnen und -kollegen in anderen EU-Ländern würden sich hinter vorgehaltener Hand ähnlich äußern und seien nicht glücklich über die Strategien ihrer Politikerinnen und Politiker, fügte er an.

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Auch der 65-jährige Tegnell argumentiert: „Zwangsmaßnahmen für das ganze Volk sind schwierig.“  Man müsse auf die gesamte Volksgesundheit schauen, nicht nur auf Corona: „Beispielsweise auf die Selbstmordrate oder auch auf die Folgen, wenn schwer kranke Menschen wegen eines Lockdowns nicht zum Arzt gehen. Für viele ist es zudem gesundheitlich schädlich, unfreiwillig isoliert zu werden.“

Tatsächlich scheint Schweden hier besser gefahren zu sein als andere. Die Selbstmordrate etwa ist 2020 laut Statistikamt sogar zurückgegangen. Die Binnenwirtschaft brach nicht so stark ein. Und das Hauptziel hat der Staat auch erreicht: Das Gesundheitswesen war nie überlastet.