Die Sinologin Susanne Weigelin-Schwiedrzik sieht Versäumnisse in EU und USA im Kampf gegen das Coronavirus. Seit Ende Jänner hätte Europa die Maßnahmen Chinas als "Ergebnis eines autoritären Regimes" betrachtet. "Dadurch haben wir Vorbereitungszeit verloren und wichtige Beobachtungen in dieser Phase versäumt", sagte die Wiener Universitätsprofessorin dem Universitätsmagazin "uni:view".
"Der chinesischen Regierung wurde vorgeworfen, zu zögerlich reagiert zu haben. Fakt ist aber, dass auch Entscheidungsträger*innen in Europa so lange wie möglich gewartet haben", ergänzte die Professorin am Institut für Ostasienwissenschaften der Universität Wien. Die europäischen Regierungen seien außerdem "weniger krisenerprobt als die Regierungen in Ostasien", wo Naturkatastrophen oder auch Epidemien öfter vorkommen: "Die verschiedenen Ebenen sind besser darauf eingespielt." In Europa dagegen gebe es zudem "Misstrauen" zwischen Bevölkerungen und ihren Regierungen. "Das ist ein Problem."
Es sei notwendig, "die Situation in China genau zu analysieren", forderte Weigelin-Schwiedrzik. Die chinesische Regierung sei zum einen "sehr hart und scharf gegen die Bevölkerung vorgegangen, indem sie strenge und weitreichende Mittel eingesetzt hat, um die Ausgangssperre durchzusetzen. Auf der anderen Seite war die Gesellschaft zur Kollaboration bereit. In Abwägung der Gefahr durch das Virus hat sie mehrheitlich entschieden, sich den Regelungen der Regierung zu unterwerfen", so die Expertin.
Umdenken in Europa
Weigelin-Schwiedrzik sieht aber ein Umdenken in Europa: Viele in Europa hätten die chinesischen Maßnahmen zur Eindämmung des Coronavirus anfänglich nicht nachvollziehen können, jetzt schon. "In der Angst vor einer Ansteckung sind die meisten Menschen bereit, solche Einschränkungen hinzunehmen, wenn es dadurch eine größere Chance gibt, nicht angesteckt zu werden. Das haben die Leute damals in Europa nicht nachvollziehen können, ich glaube heute tun sie das."
Die Sinologin sprach auch "offen aus", dass in Europa besonders jene Länder vom Coronavirus betroffen sind, "in denen der Anteil der chinesischen Bevölkerung besonders hoch ist". Die chinesische Regierung versuche dem "anti-chinesischen Gefühl", welches sich in der Welt verbreite, entgegen zu arbeiten. China wisse, dass das Virus in seinem Land seinen Ursprung genommen hat und sei daran interessiert, die Konsequenzen zu miniminieren. Deswegen unterstütze China nun andere Staaten etwa durch die Lieferung von Schutzausrüstung, Entsendung von Ärzten oder die Produktion von Beatmungsgeräten. "Das ist ein Grund, warum China so handelt und das sollte nicht gleich als expansionistischer Kurs gedeutet werden."
Weigelin-Schwiedrzik erklärte auch, dass in China die Nervosität besonders groß sei. In einem Land mit einer Einparteienherrschaft gebe es keine Alternative zu dieser Partei. "Ist die Bevölkerung der Meinung, dass der Staat unter Führung dieser Partei unfähig ist, eine Krise zu meistern, dann kann das ganze System daran zerbrechen." Daher sei "das autoritäre System in einer solchen Krisensituation besonders gefährdet. Und diese besondere Gefährdung verhindert, dass das System rational und transparent reagiert."
Die beobachteten positiven Auswirkungen auf die Umwelt erachtet Weigelin-Schwiedrzik allerdings nicht als nachhaltig: "Realistisch gesehen ist das nicht nachhaltig, im Gegenteil." Nachhaltig könne der Effekt nur sein, wenn die Situation eine Systemveränderung hervorgebracht hätte. "Das bestehende System steht derart unter Stress, dass die Zeit fehlt, sich mit einer grundlegenden Veränderung auseinanderzusetzen." In den Sektoren, in denen die Nachfrage in Europa und Amerika groß sei wie etwa bei Masken, Schutzkleidung und Beatmungsgeräten gelinge es China innerhalb kürzester Zeit, so viel zu produzieren, dass geliefert werden könne. "Also ist auch der entsprechende CO2-Ausstoß sofort wieder da."
Möglicherweise bewirke aber die erzwungene Veränderung der Lebensgewohnheiten der Menschen eine nachhaltige Veränderung, ergänzte die Universitätsprofessorin. "Vielleicht merken manche Menschen jetzt, dass es auch okay ist, mal zuhause zu sitzen, sich zu unterhalten oder Karten zu spielen. Man muss nicht unbedingt jeden Tag irgendwohin hetzen. Ein entschleunigtes Leben hat auch einen gewissen Charme."