Nach dem verheerenden Erdbeben in der Türkei und Syrien mit bereits über 24.000 Toten hat das österreichische Bundesheer seine Rettungsaktionen aufgrund einer zunehmend schwierigen Sicherheitslage kurzfristig einstellen müssen. "Der erwartbare Erfolg einer Lebendrettung steht in keinem vertretbaren Verhältnis zu dem Sicherheitsrisiko", sagte Oberstleutnant Pierre Kugelweis Samstagvormittag der APA. "Es gibt zunehmend Aggressionen zwischen Gruppierungen in der Türkei. Es sollen Schüsse gefallen sein", so Kugelweis.
Am Nachmittag konnte der Einsatz laut Bundesheer-Sprecher Michael Bauer wieder aufgenommen werden – unter dem Schutz der türkischen Armee. Laut Verteidigungsministerium hätten gegen 15 Uhr zwei Hundeführer mit ihren Hunden den Suchvorgang wieder aufgenommen. Das restliche Kontingent befinde sich demnach im Basiscamp und sei ebenfalls jederzeit für weitere Einsätze verfügbar.
Sicherheitslage angespannt
Die österreichische Katastrophenhilfseinheit hatte sich nach Informationen des Bundesheeres gemeinsam mit zahlreichen anderen Hilfsorganisationen in einem Basiscamp in der türkischen Provinz Hatay bereitgehalten. Seit Dienstag waren 82 Soldaten und Soldatinnen der sogenannten Austrian Forces Disaster Relief Unit (AFDRU) im Einsatz und bargen bisher neun verschüttete Menschen. In den frühen Morgenstunden am Samstag kam es aufgrund der Sicherheitslage zu keinen Rettungsaktionen mehr.
"Wir halten unsere Rettungs- und Bergekräfte weiter bereit. Wir stehen bereit für weitere Einsätze", so Kugelweis. Auch am Zeitplan – die Rückkehr nach Österreich war für Donnerstag geplant – ändere die aktuelle Situation laut aktuellen Angaben nichts. "Es gab keinen Angriff auf uns Österreicher. Es geht uns allen gut", so der Oberstleutnant. Die Stimmung unter den Helferinnen und Helfern sei den Umständen entsprechend gut. "Wir würden gerne weiterhelfen, aber die Umstände sind, wie sie sind."
Zahl der Toten steigt immer weiter an
Unterdessen steigt die Zahl der Toten nach dem schweren Beben im türkisch-syrischen Grenzgebiet immer weiter. Allein in den betroffenen Gebieten in der Türkei wurden 20.665 Tote geborgen, wie die Katastrophenschutzbehörde Afad Samstag früh mitteilte. Etwa 80.000 Verletzte würden in Krankenhäusern behandelt, sagte der türkische Vizepräsident Fuat Oktay.
In Syrien wurden mehr als 3500 Todesopfer gemeldet. Viele Menschen werden noch unter den Trümmern vermisst. Etwa 24,4 Millionen Menschen sind der Türkei zufolge von den Erdbeben betroffen. Über eine Million Menschen hätten kein Dach mehr über dem Kopf und seien in Notunterkünften untergebracht, sagte Vizepräsident Oktay. "Unser Hauptziel ist es, dass sie zu einem normalen Leben zurückkehren können", sagte er. Dazu sollten innerhalb eines Jahres Wohnungen wieder aufgebaut werden.
Kritik an Erdoğan
Der türkische Präsident Recep Tayyip Erdoğan sieht sich in der Türkei mit immer größerer Wut der Bevölkerung konfrontiert. Viele werfen ihm und den Behörden vor, viel zu langsam und unzureichend auf die Katastrophe reagiert zu haben. Bei den im Mai anstehenden Wahlen könnte das eine entscheidende Rolle spielen, ob Erdoğan sich im Amt hält. Am Freitag räumte er bei einem Besuch im Katastrophengebiet ein, dass die Hilfe nicht so schnell geleistet worden sei wie gewünscht.
Insgesamt wurden in der Türkei laut den Behördenangaben fast 93.000 Menschen aus den Erdbebengebieten herausgebracht. Mehr als 166.000 Einsatzkräfte seien an den Rettungs- und Hilfseinsätzen beteiligt. Seit dem ersten Beben Montag früh seien fast 1900 Nachbeben registriert worden.
Das betroffene Gebiet erstreckt sich über ein etwa 450 Kilometer breites Gebiet. Unzählige Menschen müssen bei eisigen Temperaturen im Freien, in ihren Autos oder in Zeltnotlagern ausharren, weil sie obdachlos wurden oder ihre Häuser einsturzgefährdet sind. Vielerorts mangelt es an Lebensmitteln, Trinkwasser und funktionierenden Toiletten.
Schwierige Lage in Syrien
In Syrien ist der Hilfseinsatz besonders schwierig. Das Land steckt seit fast zwölf Jahren im Bürgerkrieg. Zur Erdbebenkatastrophenregion zählen Landesteile, die von der Regierung kontrolliert werden, aber auch Rebellengebiete. Am Freitag traf ein erster Hilfskonvoi der Vereinten Nationen im Norden Syriens ein. Das Welternährungsprogramm der UNO hatte zuvor gewarnt, dass seine Lagerbestände im Nordwesten Syriens zur Neige gingen. 90 Prozent der Bevölkerung sind dort auf humanitäre Unterstützung angewiesen.
Berührende Einzelschicksale
Trotz schwindender Hoffnungen gelingt es den Rettungskräften aber auch fünf Tage nach der Katastrophe immer wieder, Menschen lebend aus den Trümmern zu retten. 122 Stunden nach den Erdbeben wurden in der Türkei zwei Frauen gerettet. Wie auf Bildern der staatlichen Nachrichtenagentur Anadolu Ajansı zu sehen war, wurde eine 70-Jährige in der Provinz Kahramanmaras in eine Decke gehüllt in einen Rettungswagen getragen. Eine 55-Jährige wurde in Diyarbakir lebend aus den Trümmern eines eingestürzten Hauses geborgen. Zahlreiche weitere Opfer werden unter den Trümmern Tausender eingestürzter Häuser immer noch befürchtet.
Am frühen Montagmorgen hatte zunächst ein Beben der Stärke 7,7 das türkisch-syrische Grenzgebiet erschüttert, bevor zu Mittag ein weiteres Beben der Stärke 7,6 folgte. Da Menschen nur in seltenen Fällen länger als drei Tage ohne Wasser überleben können und die Vermisstenzahlen noch immer sehr hoch sind, ist zu befürchten, dass die Opferzahlen noch drastisch steigen dürften.