Der zwölfbändige Brockhaus aus dem Jahr 1955 gibt das damals bedeutsame Wissen wieder. Unter dem Stichwort "Menschenrechte" finden sich gerade zwölf Zeilen mit dem Hinweis, dass der 10. Dezember der Internationale Tag der Menschenrechte sei, weil an diesem Tag im Jahre 1948 die Erklärung der Vereinten Nationen verkündet wurde. Die Europäische Menschenrechtskonvention des Europarates aus dem Jahr 1950 findet eigens erst gar keine Erwähnung. Ausführlich setzt man sich in diesem einst in den Haushalten weitverbreiteten Lexikon mit dem Thema "Menschenrassen" auseinander, illustriert mit Bildtafeln über vier Seiten. Der Brockhaus zeugt von den Wertigkeiten in diesen Jahren im deutschen Sprachraum – nach dem Ende von Nazidiktatur und Zweitem Weltkrieg.


Sieben Jahre vor Erscheinen des "Großen Brockhaus" konnte Eleanor Roosevelt, die Witwe des 1945 verstorbenen US-Präsidenten Franklin D. Roosevelt, am 10. Dezember um drei Uhr in der Nacht in Paris verkünden, dass die in Frankreichs Hauptstadt tagende Generalversammlung der Vereinten Nationen eine Menschenrechtscharta beschlossen habe. Ein Katalog, der überall geltende und unveräußerliche Rechte von Menschen auflistet, unabhängig von Religion, Geschlecht, Alter oder Nationalität. Vom Recht auf Freiheit, Leben und Sicherheit über Gedanken- und Glaubensfreiheit, das Recht auf freie Meinungsäußerung bis zum Verbot von Folter und Sklaverei etc. Ein epochales Werk, denn erstmals in der Geschichte wurden Rechte formuliert, die für alle Menschen gelten sollen. Sollen. Der Charta haftet nämlich ein Makel an, denn sie ist unverbindlich, eine Empfehlung sozusagen.

48 UN-Mitgliedsstaaten stimmten dafür 

Zwei Jahre intensiver Verhandlungen gingen voran, Eleanor Roosevelt, die engagierte und hartnäckige Menschenrechtsaktivistin, leitete die Kommission, die beauftragt war, nach den Gräueln des nationalsozialistischen Regimes einen Menschenrechtskodex zu formulieren. Mehr als eine unverbindliche Charta war schließlich nicht realisierbar, 48 Mitgliedsstaaten der UN stimmten dafür, die kommunistischen Länder Jugoslawien, Polen, Tschechoslowakei, die Sowjetunion, Ukraine und Weißrussland enthielten sich der Stimme, ebenso Saudi-Arabien und Südafrika.

Europa zog schließlich selbst nach, der Europarat arbeitete die Europäische Menschenrechtskonvention aus, die allerdings als verbindlicher Vertrag gelten sollte und 1953 schließlich in Kraft trat. Österreich, zu diesem Zeitpunkt als von den vier Alliierten noch ein besetztes Land, trat dieser Konvention erst nach Abschluss des Staatsvertrages und Erlangung der vollen Souveränität im Jahr 1958 bei.

EMRK als völkerrechtlicher Vertrag 

Anders als die UN-Menschenrechtscharta erfolgt der Beitritt zur Europäischen Menschenrechtskonvention mit einem völkerrechtlichen Vertrag. Einige Bestandteile dieser Konvention weisen in Österreich eine Rechtstradition auf. "Das Staatsgrundgesetz aus dem Jahr 1867, die Dezemberverfassung, enthält bereits wesentliche Grundrechte", erläutert Christoph Bezemek, Universitätsprofessor für Öffentliches Recht und Dekan der Rechtswissenschaftlichen Fakultät der Universität Graz. Dieses Staatsgrundgesetz garantierte die Unverletzlichkeit des Eigentums, die Glaubens- und Gewissensfreiheit, die Meinungs- und Pressefreiheit, die Versammlungsfreiheit wie auch das Briefgeheimnis und die Unverletzlichkeit des Hausrechts.

Ein Fortschritt, aber nicht für alle, sagt Bezemek: "Aus österreichischer Perspektive zwar eine grundlegende Zäsur für die Rechtsstellung der Einzelnen, aber es waren noch keine allgemeinen Menschenrechte. Denn die Rechte galten nur für Staatsbürger, wie es schon im Titel hieß." Das Staatsgrundgesetz aus 1867, also einem Jahr nach der Niederlage des habsburgischen Österreichs in der Schlacht bei Königgrätz gegen Preußen, gilt heute noch. "Nach 1918 konnte sich die Republik zwischen den Fronten der Parteien nicht auf einen republikanischen Grundrechtekatalog einigen, so übernahm man den von der Dezemberverfassung 1867 Cisleithaniens", merkt Dekan Bezemek an.

Muss die Konvention neu definiert werden? 

Wesentliche Teile der Europäischen Konvention für Menschenrechte nahm der österreichische Nationalrat 1964 in die Verfassung auf. Innenpolitisch rückt im Zuge der Diskussion um Asylwerber und Migration auch die Menschenrechtskonvention in die Debatte der Parteien. Immer wieder kommen Einwendungen, man müsse angesichts der aktuellen Ereignisse auch die Konvention neu definieren oder einschränken, die schließlich auch durch Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofes ausgeweitet worden sei. Bezemek sagt dazu: "Der Gerichtshof begreift die Konvention als lebendiges Instrument, das dazu da sei, das Individuum höchstmöglich zu schützen. Der Schutz des Einzelnen in seiner rechtlichen Vollposition, ein umfassender Anspruch, der aus der Sicht mancher politischer Protagonisten inopportun ist.

Die Konvention enthält auch ein Folterverbot, da geht es nun nicht nur darum, dass der Mitgliedsstaat nicht foltern darf, er darf die Person auch nicht der Möglichkeit, gefoltert zu werden, ausliefern. Das ist etwas, das vom Blick auf aktuelle Ereignisse sicherlich in die politische Kritik rücken kann, aber vom Grunddenken her ist es konsequent."
Die Menschenrechte blieben freilich nicht nur durch die Judikatur in Bewegung, sondern auch durch Hinzufügungen von wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Rechten oder sogenannten Teilhaberechten. Wie etwa das Recht auf Teilhabe am kulturellen Leben, das Recht auf sauberes Wasser, das Recht auf Bildung und Ausbildung und etliches mehr.

Fast scheint es, als ob man durch zusätzliche Konventionen und Deklarationen den Überblick verliert und den Blick auf das einst Wesentliche der Menschenrechte. "Das wird auch in Fachkreisen immer wieder diskutiert", weiß Verfassungsrechtsexperte Bezemek, "wobei man grundsätzlich sagen muss, mehr ist nicht immer mehr. Es ist unwahrscheinlich, dass die Multiplikation von Positionen diese Positionen faktisch verbessert. Die entscheidende Frage ist vielmehr, wie bestimmte Rechtspositionen nicht nur artikuliert, sondern auch durchgesetzt werden können."

Außerdem sei zu differenzieren zwischen Menschenrechten verschiedener Ausgestaltung und Menschenrechten verschiedener Generationen, sagt Dekan Bezemek und ergänzt: "Die ursprüngliche Idee der Menschenrechte ist ein auf den Staat gerichtetes Abwehrrecht. Eine Schutzzone der Person, in die der Staat gar nicht oder nur beschränkt eingreifen darf. Ob das der Schutz der körperlichen Integrität ist oder die Versammlungs- und Meinungsfreiheit. Das, was der Staat garantiert, muss er auch leisten. Die Teilhaberechte sind dazu im Gegensatz nicht durchsetzbar."

"Menschenrechte sollen in der Gemeinschaft diskutiert werden"

Wenn jetzt die Menschenrechte zum politischen Diskussionsthema geworden sind, kann dem der Rechtswissenschaftler und Dekan Christoph Bezemek durchaus einiges abgewinnen: "Menschenrechte waren immer Gegenstand von Diskussionen, hätten wir diese nicht über Jahrhunderte geführt, hätte es keine Entwicklung gegeben. Menschenrechte sollen in einer Gemeinschaft diskutiert werden, weil so deren Bedeutung immer wieder in Erinnerung gerufen wird. Menschenrechte zu diskutieren, heißt nicht, Menschenrechte zur Disposition zu stellen."