Frau Hameseder, Sie sind derzeit in Damaskus: Was sind Ihre Aufgaben in Syrien, das durch die türkische Militäroffensive am 9. Oktober einmal mehr zum akuten Kriegsgebiet wurde?
JUDITH HAMESEDER: Ich bin zusammen mit einer Caritas-Kollegin aus Salzburg verantwortliche Regionalkoordinatorin für alle Programme, die mit dem Syrienkrieg zusammenhängen – in Syrien selbst, aber auch in Jordanien und dem Libanon. Es geht um Bedarfserhebungen, Informieren, Koordinieren – und das Verteilen von Hilfe.

Wie geht es den nun von der Türkei vertriebenen Menschen?
HAMESEDER: Es fehlt an allem – Ärzte, Medikamente, Lebensmittel, Hygieneartikel, Kleidung, Decken und Matratzen, wie eine aktuelle Bedarfserhebung der Caritas unter 500 Familien in al-Hasaka ergab. Ein großes Thema ist auch das Bereitstellen von genügend sauberem Trinkwasser. An vielen Orten, an denen die Menschen jetzt landen, sind die nötigen Kapazitäten dafür schlichtweg nicht gegeben.

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Viele Familien flüchten nun ja schon zum wiederholten Mal...
HAMESEDER: Wir befinden uns in Syrien durch die Militäroffensive der Türkei jetzt in einer akuten Notsituation in einer ohnehin schon vorhandenen humanitären Krise. Die Menschen mussten im betroffenen Gebiet in Nordostsyrien Hals über Kopf ihre Häuser verlassen. Die Hälfte der Betroffenen und Vertriebenen sind Kinder. Kinder gehören in allen Kriegen zu den ersten unmittelbaren Opfern. Wir haben Informationen, wonach auch Wohngebiete gezielt angegriffen worden sind.

Caritas-Mitarbeiterin Judith Hameseder
Caritas-Mitarbeiterin Judith Hameseder © Caritas



"Ärzte ohne Grenzen" zogen alle Mitarbeiter aus Nordsyrien wegen der "extrem instabilen Situation" ab – wie nahe können Sie dem Krisengebiet kommen?
HAMESEDER: Die Caritas ist vor allem über lokale bestehende Strukturen tätig. Das heißt, wir unterstützen hauptsächlich in al-Hasaka (Stadt im Nordosten Syriens, außerhalb der von der Türkei angestrebten "Sicherheitszone", weshalb viele Flüchtlinge sich hierher retteten, Anmerkung) unsere dort bereits ansässigen Partner nach Kräften.

Wie ist der Informationsfluss seit dem Beginn der Offensive?
HAMESEDER: Es gibt Information, wir kommunizieren üblicherweise über Telefon und Whatsapp, aber es ist nicht einfach, immer die Verbindung zu halten – nicht zuletzt aus technischen Gründen. Am Montag musste außerdem unser Büro in Damaskus von unserem Direktor aus Sicherheitsgründen für einige Stunden geschlossen werden.

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Wie geht es in der Krise weiter – am Donnerstag einigten sich Ankara und Washington immerhin auf eine fünftägige Waffenruhe?

HAMESEDER: Das ist unmöglich zu sagen. Es gibt völlig unterschiedliche Einschätzungen, wie sich die Situation in den nächsten Tagen und Wochen entwickeln wird. Niemand weiß es wirklich.

Die Kurden scheinen der übliche Verlierer zu sein – was ist der allgemeine Tenor in der syrischen Bevölkerung zur aktuellen Lage?
HAMESEDER: Syrien ist sehr komplex, nicht zuletzt die politischen Verhältnisse sind vielschichtig. Die Einheimischen sind sehr zögerlich, was politische Aussagen anbelangt. Auch die öffentliche Meinung, was die Kurden anbelangt, ist in Syrien gespalten.

Erlebt Syrien derzeit also eine neue Stufe der Eskalation? Trügt der Eindruck, wonach das Land in den letzten Monaten zumindest einigermaßen zur Ruhe fand?
HAMESEDER: Das Bild, das wir im Westen haben, wonach Syrien wieder so etwas wie ein sicheres Land ist, dass die Menschen in ihre Heimatorte zurückkehren können, ist definitiv ein falsches. Bereits vor der Militäroffensive war die Lage prekär. Insgesamt wird die gesamte Gefahrenlage immer komplexer. Es besteht kein Zweifel: Aus humanitärer Sicht ist das, was derzeit hier passiert, eine absolute Katastrophe.