"Vor einem Jahr war hier nichts. Wald und Bäume, so weit das Auge reichte. Die Menschen haben damals am Straßenrand, in den Moscheen oder irgendwo geschlafen. Sie hatten nichts, die Lage war ein reines Chaos", erzählt der Kärntner Erfried Malle von der österreichischen Hilfsorganisation Sonne International und lässt dabei seinen Blick bis an den Horizont schweifen, wo noch immer kein Ende der Siedlungen zu erkennen ist.

Die unerwünschte Großstadt

Heute befindet sich hier eine Großstadt - wenn auch unerwünscht. Seit Beginn, als die ersten Hundetausend über die Grenze flohen, betreibt Sonne Im Flüchtlingscamp Kutupalong im südöstlichen Bangladesch eine Krankenstation mit zwei Ärzten, einem Sanitäter und einer Krankenschwester. In einem Zelt werden täglich bis zu 130 Patienten versorgt. Der Bedarf ist groß - Platz und finanzielle Mittel knapp. Wo noch vor einem Jahr Bäume die Hügel bedeckten, reihen sich nun Hütten aus Bambusstangen und Plastikplanen.

Eine Großstadt aus einem Meer von improvisierten Hütten
Eine Großstadt aus einem Meer von improvisierten Hütten © Mösinger/Sonne International



Auf 13 Quadratkilometer, einer Fläche von nur einem Zehntel von Graz, leben 920.900 Menschen im größten Flüchtlingslager der Welt – ohne Strom oder solide Kanalisation. In zwei Jahren sollen sie alle wieder verschwunden sein – und die Natur soll das Camp in der Nähe von Cox's Bazaran der Grenze zu Myanmar wieder zurückerobern. Doch die Zeichen sind andere: Es werden Straßen gebaut, Drainagen für Abwasser errichtet, Hütten verbessert. Als zuletzt die ersten 150 Flüchtlinge nach Mynamar zurückgebracht werden sollten, stieg niemand in die Busse ein. Zu groß ist die Angst vor weiterer Verfolgungen und Gewalt.

Maria Schaunitzer mit ihren Schützlingen
Maria Schaunitzer mit ihren Schützlingen © Sonne International


Denn die Flüchtlinge sind Rohingyas, eine muslimische Minderheit im mehrheitlich buddhistischen südostasiatischen Land. Die Regierung in Myanmar erkennt die teils seit Generationen im Land lebenden Menschen nicht als Staatsbürger an. Sie gelten als "Mitbringsel" der einstigen britischen Kolonialherren aus dem heutigen Bangladesch. Einschränkungen ihrer Bewegungsfreiheit, erschwerter Zugang zu Bildungs- und Gesundheitswesen, Enteignung und Zwangsarbeit waren die Folge. Immer wieder kam es zu Vertreibungen. Der jüngste Exodus begann, nachdem im August 2017 Angehörige der sogenannten Arakan Rohingya Salvation Army koordinierte Anschläge auf burmesische Grenzposten verübt hatten. Daraufhin starteten burmesische Sicherheitskräfte am 25. August heftige Vergeltungsaktionen.

Systematische Verfolgungen waren die Folge – die UNO spricht von einem Genozid, die Vertriebenen von Mord, Vergewaltigungen, Raub und Brandstiftung. Über 700.000 Menschen mussten ihre Dörfer in Richtung Bangladesch verlassen, wo bereits mehr als 200.000 Rohingyas lebten, die seit den Neunzigern vor den ersten Wellen ethnischer Gewalt geflohen waren. Sie alle landen hier, in Cox Bazar. Völlig mittellos und meist traumatisiert. Araf Ali geht es nicht anders. Er gehört zu den wenigen Rohingya, die in Myanmar studieren konnten. Der 47-Jährige führte ein angesehenes Leben als Sanitäter in seiner Heimat. Heute hilft er in der Sonne-Krankenstation mit. Als die Lage in seiner Heimat eskalierte, flüchtete auch er. "8000 Menschen lebten in meinem Dorf, heute ist niemand mehr dort. Ich weiß von mindestens fünf Getöteten." "Es müssen mehr sein. Wir haben so viele Tote gesehen", werfen seine Nachbarinnen ein.

Erfried Malle von Sonne International mit einem Schützling
Erfried Malle von Sonne International mit einem Schützling © Mösinger/Sonne International

Ali hat in seiner Heimat nicht schlecht verdient, und konnte seinen acht Kindern und sich die rechtzeitige Flucht finanzieren, seine Familie retten. Eine Option, die nur wenige Rohingyas hatten. Ayesha Begum hatte weniger Glück. Täglich sitzt sie in ihrer Hütte und flechtet Fischernetze – wie sie es in Myanmar tat. Hier kann sie sich damit ein kleines Zubrot verdienen. In ihrer Heimat war ihr Mann Fischer, sie half mit, wo sie konnte und kümmerte sich um die sieben Kinder. Als die Welle der Gewalt ihr Dorf erreichte, wurden zwei Töchter getötet, erzählt die 38-jährige unter Tränen. Und jetzt sollen sie zurück. "Wir wollen nicht gehen. Wir sind dort nach wie vor nicht sicher". Auf Dauer hier zu bleiben sei auch keine Option: "Wir haben überlebt, an die Zukunft denke ich nicht."

Genau diese ist mehr als ungewiss für eine Million Geflüchtete: Noch als 2017 immer neue Nachrichten von Gewalt aus dem Bundesstaat Rakhine kamen, vereinbarten Myanmar und Bangladesch eine vollständige Rückführung der Rohingya über zwei Jahre. Der bengalische Außenminister versprach, niemand werde gegen seinen Willen zurückgeschickt. Er stellte aber auch klar: Bangladesch ist nicht das Zuhause der Rohingya. Nach dem erfolglosen ersten Tag wurden die Rückführungen gestoppt.

Es fehlt am Nötigsten

Vorerst bereiten sich die Menschen hier somit auf den Winter vor. Denn die durchaus kühlen Temperaturen stellen für die meisten Flüchtlinge ein Problem dar. "Es kann auf bis zu zwei Grad abkühlen. Und die Menschen sind darauf nicht vorbereitet. Es fehlt an warmer Kleidung, Decken und Feuerholz. Ganz zu schweigen von der zusätzlichen medizinischen Versorgung", erzählt Entwicklungshelfer Malle. Als plötzlich 700.000 Menschen ihre Heimat verloren, konnten auch wir nicht wegschauen. An ein Ende der unerwünschten Millionenstadt denkt auch er nicht. Im Gegenteil, weitere Spenden werden dringend benötigt, um die Menschen nicht im Stich zu lassen. "Zudem müssen wir uns jetzt auf den Winter und die Zyklon-Saison vorbereiten."

So sehen es auch die Rohingyas. Statt an Aufbruch zu denken, richten sich die Menschen, so gut es eben geht, hier ein. "Wir wollen sehen, dass die Verantwortlichen zur Rechenschaft gezogen werden. Und wir wollen endlich Rechte", stellt Amit Hossain klar. Er ist einer von vier "Majees", der Rohingya-Vertretung im Camp. Der 42-Jährige ist in seinem Block für 55.000 Menschen verantwortlich. Zu seinen Aufgaben gehört es auch, 150 Menschen auszusuchen, die als erste nach Mynamar zurückkehren. Doch er weigerte sich. "Unter diesen Umständen gehen wir nicht. Wenn sie nur 150 am Tag zurückschicken, können sie uns einfach töten. Wer garantiert, dass es nicht wieder passiert? Wenn, dann nur in Gruppen von 20.000 Menschen oder mehr."

Zu groß ist die Angst vor erneuter Gewalt. Vor einem Leben ohne Rechte in einer Heimat, in der man nicht willkommen ist.