Nach dem neuen Nowitschok-Fall in Großbritannien wird der Ton zwischen Moskau und London immer schärfer. Im Unterhaus erklärte Großbritanniens Innenminister Sajid Javid, London werde nicht zulassen, dass "unsere Straßen, unsere Parks, unsere Städte als Müllhalden für Gifte" benutzt würden durch den Kreml, durch den russischen Staat.

"Intrigen und Spielchen"

Die britische Regierung, fügte der Minister hinzu, werde "allen Aktionen wehren, die unsere Sicherheit und die Sicherheit unserer Partner gefährden" – egal, ob es sich um gezielte Aktionen oder um zufällige Opfer solcher Aktionen handle. "Wie zuvor schon werden wir uns auch nach den neuesten Ereignissen wieder mit internationalen Partnern und Verbündeten beraten", sagte Javid. "Gegenwärtig richten sich die Augen der Welt auf Russland, nicht zuletzt wegen der Fußball-Weltmeisterschaft." Aus Moskau hieß es, Theresa Mays Regierung solle "endlich aufhören mit ihren Intrigen und Spielchen." Russland habe mit der Geschichte nichts zu tun.

Anlass des neuen zornigen Wortwechsels war die Einlieferung zweier weiterer Bürger aus dem Raum Salisbury – offenkundig mit schwerer Nervengas-Vergiftung – in die örtliche Klinik. Im März war in der südenglischen Stadt ein Anschlag mit dem hochgradig giftigen militärischen Kampfstoff Nowitschok auf den russischen Ex-Doppelagenten Sergej Skripal und seine Tochter Julia verübt worden. London hatte den Mordversuch damals Moskau zur Last gelegt. Der Vorfall hatte eine schwere diplomatische Krise zwischen Russland und vielen anderen Staaten ausgelöst. Moskau hatte alle Verantwortung für die Tat abgestritten. In der Folge hatten Polizeibeamte, Terrorabwehr und Giftgas-Experten Parks und Gebäude in Salisbury abgesperrt und wochenlang durchfilzt, aber weder Tatwaffe noch Hinweise auf die Täter gefunden.

Am vergangenen Samstag gab es zwei neue Notrufe in der Ortschaft Amesbury, zwölf Kilometer von Salisbury entfernt. Im Abstand von fünf Stunden wurden an diesem Tag die 44-jährige Dawn Sturgess und der 45-jährige Charlie Rowley ins Bezirkskrankenhaus eingeliefert. Beide schweben seither in Lebensgefahr. Nach Auskunft der Rettungsdienste hatten deren Helfer zunächst geglaubt, es mit Drogenopfern zu tun zu haben. Rowley war als heroinsüchtig, Sturgess als Alkoholikerin bekannt. Bereits beim Abtransport der gelähmten und aus dem Mund schäumenden Opfer trugen Ambulanzfahrer Schutzanzüge. Am Montag gingen Proben von der Klinik ans nahe Militärforschungszentrum Porton Down.

Dienstagnacht stand fest, dass auch Rowley und Sturgess mit Nowitschok in Berührung gekommen waren. Dass das Nervengas für die beiden bestimmt war, wird von der Polizei allerdings als unwahrscheinlich betrachtet. Beide waren arbeitslos und hatten keinerlei Verbindungen zu den Skripals oder zu Geheimdiensten irgendwelcher Art. Theorie der Terrorabwehr ist, dass die beiden Briten irgendwo auf unentdeckte Reste des im März benutzten Nowitschok-Stoffes gestoßen waren.
"Zur Vorsicht" rieten die Gesundheitsbehörden allen Bewohnern der Gegend, die sich jüngst an angrenzenden Lokalitäten aufgehalten hatten.

"Kein sonderlich großes Risiko"

Die Polizei räumte aber ein, dass bis heute unklar ist, auf welche Weise im März das Nowitschok-Gel an der Haustür Skripals angebracht worden war. Natürlich, erklärte Minister Javid, sei ihm bewusst, dass die Bevölkerung in der betroffenen Gegend sich nun "verunsichert" und "verängstigt" fühle. Für die Allgemeinheit aber bestehe "kein sonderlich großes Risiko". Experten sind sich indes darin einig, dass Nervengas dieser Art auch nach längerer Zeit noch eine Gefahr darstellen kann.

Ein führender britischer C-Waffen-Experte, Ex-Brigadier Hamish de Bretton-Gordon, warnte, dass "selbst ein paar Tropfen" vier Monate alten Nowitschoks noch immer tödliche Wirkung haben können.