Im kriminellen Jargon britischer Jugendbanden heißen sie "Gesichtsschmelzer". Das ist die gruselige Bezeichnung für aggressive Chemikalien, mit denen vor allem junge Männer ihre Opfer in der britischen Hauptstadt attackieren. Die Zahl der Fälle ist sprunghaft angestiegen. Waren es im Jahr 2015 noch 129 Angriffe, wurden im vergangenen Jahr bereits 224 gezählt.

Ob sich der Trend fortsetzt, ist noch nicht abzusehen. 2017 wurden Scotland Yard zufolge bisher 66 Attacken registriert. International für Schlagzeilen sorgten zwei Täter, die in einer Nacht Mitte Juli innerhalb von weniger als 90 Minuten fünf Mopedfahrer in verschiedenen Teilen der Stadt angriffen. Sie hatten es offenbar auf die Fahrzeuge ihrer Opfer abgesehen.

Die Säure frisst sich in Sekunden durch Haut, Fleisch und sogar Knochen. "Mein Gesicht brannte wie Feuer", berichtet ein attackierter Kurierfahrer. Die Säure ätzte sich durch seinen Motorradhelm, und er erlitt schwere Verletzungen. Auch der Fall einer jungen Frau, die an ihrem 21. Geburtstag Opfer einer Säure-Attacke wurde, sorgte für großes Aufsehen. Ein Mann warf einen Becher Säure durch das geöffnete Autofenster. "Meine Pläne sind zerstört, die Schmerzen sind unerträglich, und ich warte geduldig darauf, dass ich wieder ein neues Gesicht bekomme", schreibt die Frau in einem offenen Brief, den sie auf ihrer Webseite veröffentlichte.

Lebenslange Folgen für Opfer

Die Opfer von Säure-Attacken leiden oft ein Leben lang unter den Folgen. "Sie sind körperlich und seelisch traumatisiert", berichtet Jaf Shah von Acid Survivors Trust. Die Organisation setzt sich für Überlebende in aller Welt ein. In vielen Fällen sind mehrere Operationen notwendig. Die Zahl von Patienten, die nach Säure-Angriffen operiert werden müssen, habe in London "das Ausmaß einer Epidemie" erreicht, sagt Peter Dziewulski von einer Spezialklinik für Plastische Chirurgie dem "Evening Standard". Die Opfer hätten entstellende Narben, seien zum Teil erblindet und lebten oft völlig isoliert.

Noch rätseln Behörden und Wissenschafter über den unheimlichen Trend. Mitglieder rivalisierender Jugendbanden hätten auf Säure umgesattelt, nachdem die Beschlagnahmung von Messern und Schusswaffen zugenommen habe, so die Einschätzung des Kriminologen Simon Harding von der Middlesex University in London. "Säure wird als Waffe erster Wahl eingesetzt, nicht als letztes Mittel, und das ist völlig neu", sagt Harding.

In den meisten Fällen seien Opfer und Täter Bandenmitglieder, junge Männer im Teenager-Alter. Aber die jüngsten Angriffe auf Mopedfahrer, ein Angriff auf zwei Muslime, und der Einsatz von Säure bei Raubdelikten passten nicht in dieses Schema. "Wenn diese Art von Kriminalität zunimmt, wäre das sehr furchterregend", warnte Harding. Die beunruhigende Botschaft: Jeder kann inzwischen zum Opfer werden.

Säure leicht zu beschaffen

Aggressive Chemikalien sind leicht zu beschaffen, billig, und vor allem legal. "Ein Liter Schwefelsäure kostet nur ein paar Pfund", sagt Shah. Man brauche keine Lizenz, müsse sich nicht ausweisen, und Barzahlungen machten es der Polizei schwer, Käufer und mögliche Täter zu ermitteln. "Wer mit einem Messer erwischt wird, wird angeklagt", sagt Sha, "aber wer Säure mit sich führt, dem passiert im Moment gar nichts". Er und andere Experten fordern von der Regierung unter anderem die Einführung einer Lizenz für den Kauf von ätzenden Substanzen, sowie ein Mindestalter.

Die Regierung hat die Dringlichkeit des Problems erkannt. Im Juli kündigte Innenministerin Amber Rudd eine härtere Gangart an. Wer Säure als Waffe einsetze, werde "die volle Härte der Justiz zu spüren bekommen", warnte Rudd nach einer Debatte im Parlament. Gerichte könnten sogar lebenslange Haftstrafen verhängen. Die Regierung plant die Klassifizierung von Säure als "gefährliche Waffe", sowie die Einführung von Kontrollen beim Verkauf von aggressiven Chemikalien.

Die Londoner Polizei setzt zunächst auf eine schnelle Hilfe für die Opfer. Mehr als 1.000 Polizeistreifen werden mit speziellen Erste Hilfe-Kästen ausgerüstet, dazu gehören Schutzkleidung und fünf Liter Wasser.