Wenn Henry durch den Central Park flaniert, zieht er alle Blicke auf sich. Radler, Pensionisten, kleine Kinder, junge Pärchen - sie alle wollen ihn kennenlernen. Der 17-Jährige ist kein gewöhnlicher New Yorker: Er ist eine Schildkröte.
"Ein Klischee ist, dass New Yorker unhöflich und ruppig sind, doch Henry hat mich vom Gegenteil überzeugt. Sie müssen sehr kontaktfreudig sein, denn Dutzende Menschen sprechen uns an", sagt Amanda Green, die das Tier vor drei Jahren bekommen hat. Inzwischen kann sich die 34-Jährige ein Leben ohne ihren gepanzerten Freund nicht mehr vorstellen. "Im Winter kuscheln wir zusammen und schauen Netflix", erzählte Green. "Henry hat alle Teile von 'Der Pate' gesehen, nur von Teil 3 ist er kein Fan."
Christopher Simons schaut entgeistert, als er bei einem Spaziergang durch den Park auf Henry trifft. "Es kommt nicht jeden Tag vor, dass ich auf ein Reptil als Haustier treffe", sagt der 25-Jährige. "Ich stelle es mir schon schwer vor, einen Hund in einer Riesenstadt wie New York zu halten, aber eine Schildkröte?"
Internet-Star
In sozialen Netzwerken im Internet ist Henry ein Star: Rund 14.000 Menschen verfolgen seine Abenteuer auf Instagram. Frauchen Green bekommt Anfragen aus aller Welt, wie man Schildkröten als Haustier hält. Und wie es sich für einen Star gehört, ist Henry ziemlich anspruchsvoll: Green bestellt im Internet spezielles Heu für Schildkröten, und Henry hat eine Sonnenlampe.
Da Green - eine gebürtige Texanerin, die seit 13 Jahren in New York lebt - einen Vollzeit-Job im Bereich Marketing und Werbung hat, fällt es ihr oft schwer, Zeit für Henry zu finden. Deswegen hat sie im Mai eine Job-Annonce auf der Online-Plattform Craigslist veröffentlicht: Gassi-Geher gesucht. Mehr als 500 Menschen haben sich innerhalb weniger Tage bei ihr gemeldet, um Henry auszuführen. Teela Wyman (24) hat den begehrten Job vor zwei Wochen ergattert. Für elf Dollar die Stunde schiebt sie Henry im Kinderwagen durch Harlem und spaziert mit ihm durch den Central Park. "Ich liebe es, mit Tieren zu arbeiten", sagt sie. "Da er keine Leine hat, muss ich aufpassen, dass er mir nicht entwischt."
Gefährlicher Müll
Flink flitzt die zehn Kilo schwere Schildkröte durch das Gras und stoppt, um ein kurzes Bad in den Sonnenstrahlen zu genießen, bevor sie sich wieder munter ans Grasfressen macht. "Henry liebt vor allem Löwenzahn", erzählt Green: "Es ist wie ein Feld voller Pommes für ihn." Als ein quietschgelbes Etwas aus seinem Maul schaut, zieht Green daran - und heraus kommt ein gelber Luftballon. "Henry isst alles, was ihm in den Weg kommt, auch Zigarettenkippen. Müll kann gefährlich für ihn werden. Manchmal versuchen Passanten, ihn mit Donuts oder Nüssen zu füttern. So etwas geht gar nicht."
Die Spornschildkröte kann bis zu 100 Jahre alt werden und braucht viel Pflege. "Henry ist viel bedürftiger als eine Katze", sagt seine Besitzerin. "Ich mache mir schon Sorgen, wenn ich an die Zukunft mit ihm denke. Er hat mein Leben viel komplizierter gemacht, aber auch um vieles fröhlicher."