Zwei Wochen nach der Feuerkatastrophe im Londoner Grenfell-Tower ist die Fassungslosigkeit noch immer groß. Behörden sprechen von mindestens 80 Toten. Überlebende fürchten, dass es weitaus mehr sind. Die britische Regierung tut sich schwer, das Vertrauen der Überlebenden zurückzugewinnen. Zu chaotisch laufen die Unterbringung der Menschen und das Aufarbeiten der Katastrophe.
Überlebende des Hochhausbrands klagen über chaotische Zustände. "Jeder Teil deines Lebens ist ausgesetzt. Leute, die eine Arbeit haben, können nicht hingehen, weil sie nicht wissen, ob sie am Abend noch im selben Hotel sein werden. Man muss allem hinterherlaufen", sagte ein Überlebender der BBC.
Kritik gibt es auch an der Suche nach den Opfern. Viele trauen den offiziellen Angaben nicht und halten die Methoden der Polizei für unangemessen. Die Ermittler tun sich schwer, weil Teile des Gebäudes noch immer nicht betreten werden können. Zudem ist die Identifikation der Getöteten äußerst aufwendig.
Freiwillige Helfer fordern daher, Standortdaten von Handys und andere Mittel zur Hilfe zu nehmen. Sie kritisieren, es gebe noch immer keine Liste der Überlebenden, geschweige denn der Menschen, die sich vermutlich in der Nacht des Unglücks im Gebäude aufgehalten haben.
Doch Hunderte Opfer?
Die 44-jährige Sarah Colbourne, die in der Nähe des abgebrannten Hochhauses wohnt, sagte der britischen Nachrichtenagentur PA: "Wir wissen von 20 Menschen, die nicht ans Telefon gehen, keine E-Mails beantworten. Sie sind nicht vermisst, sondern tot. Es gibt Kinder, die nicht zur Schule kommen." Colbourne glaubt, dass es weitaus mehr Opfer gibt als die offizielle Zahl nahelegt. "Die Rede ist von 79. Wir sind nicht dumm, es sind Hunderte", sagt sie.
Gleichzeitig werden immer mehr haarsträubende Details bekannt, wie der Brandschutz in dem Gebäude mit Füßen getreten worden ist. Brennbare Fassadenteile, über die sich das Feuer rasend schnell ausbreiten konnte, sind nur ein Baustein in einer Reihe von Versagen.
Auch Gasleitungen, die ungeschützt über Haustüren angebracht wurden, scheinen gang und gäbe gewesen zu sein. Beschwerden der Mieter wurden missachtet oder auf die lange Bank geschoben.
Premierministerin Theresa May kündigte eine landesweite Untersuchung an. Darin müsse festgestellt werden, wie es zu dem jahrzehntelangen Gebrauch von brennbaren Fassadenteilen an Hochhäusern im ganzen Land kommen konnte, sagte May.
Untersuchungen laufen
Doch noch ist nicht einmal klar, ob die Verkleidung des abgebrannten Gebäudes den geltenden Brandschutzregeln entsprach oder nicht. Die Antwort auf diese Frage ist wichtig, denn sie könnte darüber entscheiden, ob die Verantwortung für die Katastrophe bei der Politik oder bei den Bauunternehmen liegt. Die Regierung besteht darauf, geltende Regeln seien nicht ausreichend beachtet worden.
Dem widerspricht David Metcalfe vom Unternehmerverband der Fenster- und Fassadenbauer CWCT. Die Brandschutzregeln seien nicht klar definiert gewesen, sagte er der britischen Nachrichtenagentur PA. Es habe keine Bestimmungen über die Brennbarkeit von Fassadenteilen gegeben.
Rund 600 Gebäude im ganzen Land, die mit einer ähnlichen Verkleidung wie der Grenfell-Tower versehen sind, sollen nun überprüft werden. Von 120 getesteten Gebäuden fielen bisher alle durch, wie Premierministerin Theresa May mitteilte. Doch es gibt Zweifel daran, ob die eiligen Tests überhaupt verlässliche Ergebnisse liefern. Geprüft wird nicht an den Gebäuden selbst, sondern im Labor an tellergroßen Stücken, die aus den Fassaden herausgeschnitten wurden. Nach welchen Kriterien getestet wird, teilte die Regierung nicht mit.
Ein Sprecher des zuständigen Ministeriums sagte lediglich, die Tests seien von unabhängigen Experten empfohlen worden. Welche Maßnahmen ergriffen werden, würde von den örtlichen Behörden entschieden. An manchen Gebäuden wurde bereits damit begonnen, Fassadenteile abzumontieren, andere wurden geräumt, wie vier Gebäude im Londoner Stadtteil Camden.
Viele Menschen weigerten sich, ihre Wohnungen zu verlassen, aus Angst, keine angemessene Unterkunft zu erhalten. "Es gibt Menschen hier, die unter sehr großem Stress stehen", sagte ein BBC-Reporter vor Ort.