Die Schreckensbilder sind vor 20 Jahren um die Welt gegangen: 39 Leichen werden aus einer Luxusvilla im kalifornischen Rancho Santa Fe nahe San Diego getragen. Die 18 Männer und 21 Frauen der Sekte "Heaven's Gate", darunter ihr 66-jähriger Anführer Marshall Herff Applewhite ("Do"), hatten sich mit Schlafmitteln und Wodka das Leben genommen.
Grausige Details über den größten bekannten Massenselbstmord auf amerikanischem Boden kamen erst nach und nach ans Licht. Einige Sektenmitglieder hatten sich Plastiksackerln über den Kopf gezogen, um die Wirkung der Giftmischung zu verstärken.
"Flucht" vor Weltungergang
Die Sekte hatte sich in die abstruse Idee verstiegen, die Erde vor einem drohenden Weltuntergang rechtzeitig verlassen zu müssen. Auslöser der Tragödie war der Komet Hale-Bopp, der zeitweise mit bloßem Auge am Himmel zu sehen war. Das Erscheinen des Himmelskörpers war für Applewhite, Sohn eines Geistlichen und früher einmal Musikprofessor an einer Hochschule, ein Zeichen für ein mögliches "Verkehrsmittel". Er redete seinen Anhängern ein, nach dem "Abstoßen" ihres Körpers an Bord eines Raumschiffs eine bessere Welt erreichen zu können.
"Dies waren Menschen auf einer spirituellen und religiösen Suche, die sich auf der Erde fremd fühlten und an außerirdisches Leben glaubten", sagte Ben Zeller, US-Professor für religiöse Studien am Lake Forest College bei Chicago. Für sein 2014 veröffentlichtes Buch "Heaven's Gate: America's UFO Religion" sprach er mit früheren Sektenmitgliedern und analysierte die vielen Videos und Schriften der Anführer Applewhite und der 1985 gestorbenen Bonnie Nettles ("Ti").
In Videoaufnahmen wenige Monate vor ihrem Selbstmord wirkten Applewhite und seine Anhänger recht gelassen. Lächelnd erzählten sie von der bevorstehenden Rettung, von Raumschiffen und Außerirdischen. Ihren Suizid hatten sie sorgfältig geplant. Die Nachrichtenbilder zeigten säuberlich mit großen violetten Tüchern bedeckte Leichen, die am 26. März 1997 auf Betten und Matratzen gefunden worden waren. Sie trugen eine Art einheitliche Uniform: schwarze Hemden und Hosen, dazu neue schwarze Sportschuhe. Außerdem hatten sie einen kleinen Koffer und eine Fünf-Dollar-Note dabei.
"Für sie war der Körper nur ein Werkzeug, die Seele war das Wichtigste, wie in vielen Religionen, nur trieben sie es zum Extrem. So wie es heute Selbstmordattentäter tun, die für ihren Glauben bereitwillig sterben oder töten", erklärte Zeller.
"Übergang" statt "Selbstmord"
Die Mitglieder von "Heaven's Gate" sprachen selbst nicht von Selbstmord. Auch heute noch lebende Anhänger der Gruppe sehen das so: "Es war nur ein Übergang. Kein Leben ging verloren. Sie wurden einfach nur in einen höherwertigen Körper überführt", teilte "Telah" von der Webseite "Heavensgate.com" schriftlich mit. Die Seite würde im Auftrag von "Do" und "Ti" weitergeführt. Es gebe "noch ein paar Anhänger". Doch man könne keiner Gruppe mehr beitreten.
Mitte der 70er-Jahre hatten "Do" und "Ti" die Sekte gegründet, zeitweise folgten ihnen mehrere Hundert Menschen, darunter Lehrer, Geschäftsleute und Ingenieure. Sie zogen im amerikanischen Westen von Staat zu Staat, brachen die Verbindung zu Freunden und ihren Familien ab. Sie lebten wie Mönche und Nonnen, hielten sich von Drogen, Alkohol und Sex fern, sagte Zeller. In Videos sprachen einige der Männer davon, dass sie sich kastrieren ließen, darunter auch Applewhite.
Science Fiction und Verschwörungstheorien
Science-Fiction-Filme und TV-Serien wie "Star Trek" zählten zu den Highlights in dem asketischen Leben der Gruppe, wie Zeller sagte. "Das Leben einer Raumschiff-Crew war für sie ein Vorbild".
Applewhite heizte in seinen Reden die Weltuntergangsstimmung vor der Jahrtausendwende an. Die Erde werde in Kürze "recycled", sagte er wenige Monate vor dem Selbstmord. Der einzige Ausweg: durch das "Himmelstor" zu gehen. "Es ist auffällig, wie stark die Gruppe an Verschwörungstheorien glaubte", meinte Zeller.
Museum of Death
Die Villa in Rancho Santa Fe, die Applewhite für den kollektiven Selbstmord angemietet hatte, wurde später abgerissen. Die vornehme Nachbarschaft wollte den Schandfleck beseitigen. Dafür erinnert aber ein Raum im "Museum of Death" in Hollywood an "Heaven's Gate". "Wir haben authentische Kleidungsstücke und ein Etagenbett, auf dem damals Leichen lagen", erzählte Museums-Manager Erek Michael. Es sei eine echte Besucherattraktion. "Schließlich war es der größte Massenselbstmord in den USA."
Barbara Munker/dpa