Sie streicht konzentriert mit flinken Bewegungen am weißen Törtchen, das rasch Konturen annimmt. Nun werden ein paar Pralinen in Vanillemousse gesetzt. Ein Dutzend Beobachter betrachten an einem Julisamstag in Paris die Kunst der Patissiere durch die beiden großen Schaufenster. Von der Boulangerie vis a vis duftet das Baquette, dazu ein Hauch von französischem Käse von nebenan. Es ist angenehm ruhig und schattig hier auf der Rue des Martyrs, die das 9. mit dem 18. Arrondissement, Notre-Dame-de-Lorette und das Sacré-Coeur verbindet.

Ein ungewöhnlich dichter Bewuchs von Sträuchern, Blumen und Bäumen in zwei Meter breiten und zehn Meter langen Beeten zieht sich als grünes Band zwischen Boulevard und der verbliebenen schmalen Fahrbahn, auf der nur mehr Radfahrer und einige Zustellfahrzeuge verkehren. Am Wochenende ist die Straße der Märtyrer für Autos ganz geschlossen.

Ich rieche Minze und blühenden Jasmin, freue mich über den Anblick von Hundsrosen und Lilien. Ein leises Rauschen der Blätter mischt sich mit den Gesprächen der vielen Einkäuferinnen und Einkäufer.

„Kein Vergleich! Seit unsere Straße grün ist, lebt es sich hier viel angenehmer, die Kunden sind entspannter und das Geschäft ist besser“, erzählt die Kellnerin Monique vor einem Pflanzendickicht am Beginn der Straße, das einer überdimensionierten Blumenschüssel gleicht.

Radikaler Umbruch vor 170 Jahren

Vor 170 Jahren beginnt der damalige Präfekt von Paris, Georges-Eugéne Haussmann, einen radikalen Umbruch der von der Cholera schwer gezeichneten Stadt. 20.000 Häuser werden entfernt, um Platz für breite Sichtachsen und Straßen zu schaffen. Paris wird luftiger und heller, ein eigener Baustil mit den prägenden dunkelgrauen Zinkdächern entsteht.

Vor knapp hundert Jahren entwickelt eine Gruppe von Stadtplanern und Architekten in Kooperation mit Peugeot und Renault mit dem Konzept Voisin die Vision einer autogerechten Stadt. Zwar werden extreme Teile wie der Abriss des heute angesagtesten Pariser Viertels, Marais, nie umgesetzt, die Ideologie von Voisin bestimmt jedoch die Stadtplanung der folgenden Jahrzehnte und führt zu einer radikalen Vermehrung von Straßen und Autoverkehr. Paris wird zur dichtest besiedelten Großstadt Europas, sogar stärker verbaut als New York oder Delhi.

Nach Tagen extremer Temperaturen lässt die Hitzewelle Canicule am 15.August wieder nach. In ganz Europa sterben im Sommer 2003 mehr als 70.000 Menschen an der Hitze, besonders viele davon in Paris. Betonwüsten und die für Paris so charakteristischen Zinkdächer werden zur Falle, letztere produzieren in praller Sonne Temperaturen von bis zu 80 Grad. Laut dem Fachblatt Lancet Public Health steigt die Zahl der Hitzetage in Europa durch die Klimakrise doppelt so schnell wie im globalen Durchschnitt. Westeuropa ist besonders gefährdet, denn hier leben mit Älteren, Vorerkrankten und Bewohnern größere Städte viele Menschen mit höherem Risiko.

„Heute ist der 25.Juni 2032, es ist acht Uhr früh. Zeit für die Fernsehnachrichten. Seit zehn Tagen liegt Paris unter einer nie dagewesenen Hitzeglocke. Der Wetterdienst hat schon 44,7 Grad gemessen, es kommt noch schlimmer. Wir erwarten Höchstwerte um 50 Grad, sagt eine Sprecherin des meteorologischen Dienstes“. Mit dieser Meldung des Lokalfernsehens beginnt vergangenen Oktober die erste Katastrophenübung zur Hitzebelastung. Geprobt wird dabei vor allem die Bewältigung der Krise in Altenheimen und Schulen sowie das Erreichen von Kühlungsräumen, die in Museen, Verwaltungsgebäuden, Supermärkten und Tiefgaragen geschaffen wurden.

Die Kühlung der Stadt durch Rückbau und Begrünung ist seit zehn Jahren Programm der Pariser Stadtregierung. Keine verschämte Verringerung von Parkraum und Behübschung von Asphaltbändern, sondern eine umfassende Transformation mit klaren Ansagen und Plänen, die durch Realitäten überzeugt. Nur mehr die rechtsextremen Lepenisten lehnen den Umbau grundsätzlich ab, doch sie bleiben in Paris bei meist unter 10 Prozent.

Kern der Transformation: Neuaufteilung des öffentlichen Raums

Ein Freitagnachmittag in Paris. Ich teste das Radfahren und merke schon nach wenigen Metern die Freude an der Bewegung, wie schön es ist, endlich Platz zu haben, sicher zu sein. Der Kern der Transformation von Paris ist die Neuaufteilung des öffentlichen Raumes. Stark ausgeweitet werden die Boulevards, die Platz erhalten für Gespräche, Sitzgruppen, Gastronomie, neu sind die grünen Bänder aus Sträuchern, Pflanzen und Bäumen und zu den großen Gewinnern zählen Radfahrer und Fußgänger. Diese Umverteilung schafft mehr Lebensqualität, verringert die Emissionen und kühlt die Stadt.

Die Rue de Rivoli, eine der wichtigsten städtebaulichen Achsen und seit Jahren Finale der Tour de France, ist drei Kilometer lang und 20,7 Meter breit, geschätzte sieben Meter sind für Autos verblieben. Ein Klingeln und Surren erfüllen die Luft. 16.000 sind heute hier schnell, umweltschonend und mit viel Freude unterwegs. Beim Hôtel des Ville, dem Rathaus, steige ich ab und besuche im 4.Stock David Belliard, den grünen Vizebürgermeister für Transformation.

„Mit unserem neuen bioklimatischen Flächennutzungsplan legen wir den Klimaschutz und den Hitzeschutz in allen Bereichen fest“, erklärt der 46-Jährige.. „Damit ein Sommer in der Großstadt auch in einigen Jahrzehnten gut zu überleben ist. Daher wollen wir Vorbild sein bei der Emissionsreduktion, aber auch bei jedem einzelnen Bauvorhaben die Kühlungsmöglichkeiten wie kühlende Zufluchtsorte und kühlende Inseln festschreiben. Bäume sind das beste Mittel. Ein großer Baum verdunstet an einem heißen Sommertag bis zu 400 Liter Wasser und kühlt dadurch so stark wie zehn Klimaanlagen. Das kann zehn Grad und mehr bringen.“

155.000 Bäume werden gepflanzt

Paris verwirklicht daher einen ambitionierten Plan: 70.000 Parkplätze werden gestrichen, 155.000 neue Bäume gepflanzt – gut die Hälfte des Programmes ist bereits umgesetzt, um 40 Prozent hat sich die Luftqualität verbessert. 550 Kilometer neuer Radwege sind in diesen zehn Jahren der Transformation entstanden – und über 200 Schulstraßen.

Ich wandere am Sonntagmorgen durch die lange Rue du Temple in den Stadtteil Belleville in den Norden der Stadt und stehe nach 45 Minuten vor einer rue aux écoles. Stark begrünte Straßen im Umfeld von Schulen, ohne Autoverkehr, ein großer Wasserspender im Zentrum. Die Ferien haben längst begonnen und doch spielen hier einige Schülerinnen und Schüler. „Ich freue mich schon wieder auf den Schulbeginn“, erzählt Amin, dessen Alter ich auf zehn Jahre schätze. Mit großer Begeisterung zeigt er mir, wie riesengroß der grüne Dschungel im Schulhof ist. Das ist das neue Paris – die Menschen, ihre Sicherheit, ihre Gesundheit, ihre Zukunft stehen im Mittelpunkt.

Carlos Morena ist Professor an der Sorbonne Université. Er gilt als Vordenker der Transformation, die Paris zur 15-Minuten-Stadt machen, die Lebensbereiche wieder zusammenführen will. „Das ist kein neues Verkehrskonzept, sondern ein radikaler Plan unser Leben zu verändern. Dezentralisierung, Durchmischung, Lebensqualität, kleine Strukturen, Einbeziehung der Betroffenen“, wird er vom „Guardian“ zitiert.

Die rotgrüne Stadtregierung mit Bürgermeisterin Anne Hidalgo und Vizebürgermeister David Belliard arbeitet daran mit großer Konsequenz. Wie in Kopenhagen, Utrecht, Brüssel oder Amsterdam zeigt Paris, was geht, wenn klare Ziele engagiert umgesetzt werden. „Mit jeder Ausdehnung der Leuchttürme zur neuen Normalität der Stadt steigt auch die Zustimmung, in Paris werden heute nicht einmal mehr fünf Prozent der Wege mit dem Auto, aber mehr als 11 Prozent mit dem Rad und 53 Prozent zu Fuß zurückgelegt“, sagt der Vizebürgermeister für Transformation.

Die Olympischen Spiele sind dafür eine Chance. Vor wenigen Jahren wurde das Ufer der Seine noch als Schnellstraße genutzt, nun ist der Quai eine Flaniermeile. Ein Teil der Schwimmwettbewerbe wird im Fluss durchgeführt, dafür wurde die Wasserqualität saniert. „Sur la plage“, wird es nach Olympia heißen.

Teile der „Prachtstraße“ Champs Élysée werden während der olympischen Spiele gesperrt, danach wird sie umgebaut hin zu viel Grün, breiten Boulevards, Platz für den Radverkehr. Die Wirtschaft applaudiert und finanziert.

Die Ringautobahn Périphérique muss eine ihrer drei Fahrspuren für den Verkehr der olympischen Spiele abtreten. Danach wird dieser Streifen für Fahrgemeinschaften reserviert, ein erster Schritt zur Vision einer Verringerung auf eine Fahrspur für den motorisierten Individualverkehr. Das Auto dominiert nicht mehr, es ist ein Verkehrsmittel von mehreren.

Mit der Metro 14, deren Verlängerung gerade rechtzeitig in Betrieb gegangen ist, fahre ich in die Vorstadt Saint-Denis, wo ein Großteil der Olympiade stattfindet. Der neue Bahnhof für 250.000 Nutzer wird Knotenpunkt des Grand Paris Express, ein 200 km langes Schienennetz, das bis 2031 um Paris herum die Vorstädte und die Pariser Metro verbinden, die City entlasten und Wirtschaftsimpulse in den Vororten schaffen wird.

Ich wandere über FUP, wie die neue Fußgängerbrücke über die Dutzenden Gleise der Nordbahn genannt wird. Ein 300 Meter langes und 28 Meter breites Versprechen aus Holz, das an das Skelett eines Wales erinnert und in der Funktion italienischer Bürgerbrücken nicht nur Verbindung, sondern auch Kulturstädte und Gastronomiestandort sein wird. Dreißig Jahre wurde das Projekt angekündigt, nun gab es durch Olympia das Geld.

Ein Signal an die Bewohner der Banlieue, die sich seit Jahrzehnten abgehängt und durch die Transformation der Stadt Paris ausgesperrt fühlen. Schafft es Olympia, für einen starken nachhaltigen ökologischen und sozialen Impuls zu sorgen und die wundersame Transformation von Paris weiter zu beschleunigen?