Geschwister zu haben, ist eine intensive Erfahrung. Zahlreiche Interviews, die Prinz Harry zur Erscheinung seiner Autobiografie gegeben hat, zeugen davon. Der Streit mit seinem Bruder Prinz William ist nur eine Episode daraus. Seine Bekundung, seinen Bruder zurückhaben zu wollen, eine andere. Doch Geschwister, ihre Liebe zueinander, aber auch ihre zeitweise Abneigung gegeneinander sind Teil vieler Familien und haben ihre ganz eigene Dynamik. Wie also prägen uns unsere Geschwister – auch wenn wir schon längst nicht mehr im gleichen Haushalt wohnen?

„Geschwister sind eine Chance für soziales Lernen“, sagt Harald Werneck, Professor am Institut für Psychologie der Entwicklung und Bildung der Universität Wien. Abseits von Eltern können Kinder mit annähernd Gleichaltrigen Aktionen und Reaktionen ausprobieren, Erfahrungen im Umgang mit anderen sammeln. „Wie reagiert mein Bruder, meine Schwester, wenn ich ihm oder ihr etwas wegnehme und wie, wenn ich nachgebe?“

Vor diesem Hintergrund bekommen auch die ewigen Streitereien am Küchentisch oder auf der Rückbank im Auto, die Eltern nur zu gut kennen, einen Sinn. Denn wenn sich Geschwister aneinander abarbeiten, lernen sie, mit Konflikten umzugehen. Es werden Erfahrungen gemacht, die später im Erwachsenenleben nützlich und notwendig sind.

Es braucht konfliktbereite Eltern

Dieses Video könnte Sie auch interessieren

Doch die Annahme, dass, nur weil ein Kind mit Geschwistern aufgewachsen ist, es automatisch sozial kompetent ist, greift zu kurz. „Die Eltern sollten diese Streitkultur fördern, sie sollten selbst konfliktbereit sein“, sagt Luise Hollerer, Psychologin und Psychotherapeutin aus Graz. Im Alltag bedeutet das, man soll und darf Streit zwischen den Geschwistern zulassen. „Kinder sollten lernen, Kompromisse zu schließen, es auch einmal auszuhalten, wenn die Stimmung angespannt ist, wenn man nicht einer Meinung ist“, so Hollerer. Einschreiten sollten Eltern dann, „wenn der Streit handgreiflich wird oder wenn ein Kind häufig ins Hintertreffen gerät oder wenn ein Kind das andere ständig dominiert.“

Rivalität ist zwischen Geschwistern grundsätzlich vorhanden, in manch einer Beziehung ausgeprägter als in anderen. Dies kann auch mit dem Geschlecht zu tun haben, zwischen Brüdern herrscht meist ausgeprägtere Konkurrenz als zwischen Schwestern. Allgemeine Zuschreibungen, dass Erstgeborene die Verantwortungsbewussten oder Nesthäkchen meist risikofreudiger sind, mögen in manchen Fällen stimmen, der alleinige Faktor ist die Geburtenrangfolge aber nie. „Jedes Kind bringt seine eigene Persönlichkeit mit, kein Mensch ist gleich, keine Familie ist dieselbe“, gibt Werneck zu bedenken.

Vor Geschwistern kann man nicht weglaufen – zumindest nicht auf Dauer

Ein weiterer Puzzlestein in der Geschwisterbeziehung kann das Alter sein. „Kinder brauchen für ihre Entwicklung sogenannte symmetrische Beziehungen, also Beziehungen zu Gleichaltrigen“, sagt die Expertin. Der Unterschied zu Freunden besteht bei Geschwistern darin, dass man diese nicht nach Ähnlichkeiten aussucht und auch nicht „weglaufen“ kann, wenn es Spannungen gibt. Man muss sich also gezwungenermaßen miteinander auseinandersetzen.

Von dieser Auseinandersetzung profitiert jedes Geschwisterkind, jüngere tendenziell mehr, da sie mit einer älteren Schwester, einem älteren Bruder ein annähernd gleichaltriges Vorbild haben. So können Erstgeborene Jüngere etwa anspornen, sie ermutigen, Neues auszuprobieren, wie es Eltern nicht immer können.

Die längste Beziehung

„Je jünger die Kinder sind, umso deutlicher nehmen sie Altersunterschiede wahr bzw. spielen diese eine Rolle“, erklärt Hollerer. Je älter man aber wird, umso weniger Bedeutung hat ein Altersunterschied.
Das zeigt sich auch darin, dass sich viele Rivalitäten mit dem Ende der Pubertät bzw. im Erwachsenenalter auflösen können. „Wir wissen aus der Forschung, dass im Alter viele Geschwister wieder eine intensivere Beziehung haben“, sagt Hollerer. Etwa, weil sie gemeinsam für einen Elternteil sorgen. „Geschwisterbeziehungen sind die längsten Beziehungen, die wir haben“, gibt Werneck zu bedenken. „Denn die gemeinsame Familiengeschichte hat etwas unheimlich Verbindendes.“