Im Vereinigten Königreich ist am Dienstag durch den größten Bahnstreik seit 33 Jahren der Schienenverkehr weitgehend lahmgelegt worden. Millionen Britinnen und Briten waren von diesem Betriebsstopp betroffen – und fürchten, dass auch für den Rest der Woche und vielleicht sogar auf längere Zeit hin wenig Aussicht auf regulären Eisenbahnverkehr besteht. Viele entschieden sich dafür, an diesem Tag von daheim aus zu arbeiten. Andere suchten sich im eigenen Wagen, in Bussen oder in Taxis zu ihren Arbeitsplätzen, zu Schulen und zu anderen Zielorten durchzuschlagen. Besonders angespannt war die Situation in London, wo gestern wegen eines separaten Streiks auch kaum eine U-Bahn fuhr.
Landesweit lag die Hälfte der Bahnstrecken vollständig still, und auf den übrigen Strecken fuhren nur wenige Züge. Rund 40 Städte waren mit der Bahn an diesem Tag überhaupt nicht erreichbar. Viele Bahnhöfe, vor allem in der Provinz, standen leer. Flughäfen wie Heathrow Airport, die gegenwärtig ohnehin schon Probleme haben, einen reibungslosen Flugbetrieb zu garantieren, fanden sich am Dienstag ohne ausreichende Anschluss-Verbindungen. Taxis und Beförderungsmittel wie Uber verlangten enorme Summen, selbst für kurze Strecken. Mancherorts kam es zu zornigen Zusammenstößen zwischen Taxifahrern und frustrierten Passagieren.
Chaos blieb aus
Auf den Straßen selbst gab es mehr Verkehr als sonst, besonders zu den Stoßzeiten, aber nicht das befürchtete Chaos. „Wir gehen davon aus, dass viele Leute sich wohl dafür entschieden haben, von zu Hause aus zu arbeiten“, meinte dazu Frank Bird, Planungschef bei Highways England, der englischen Straßenbehörde.
Als nächste Streiktage stehen bereits Donnerstag und Samstag im Kalender. Aber auch an den Tagen „zwischendurch“ wird nicht viel mehr als die Hälfte der üblichen Züge verfügbar sein. Die Regierung hat der Bahn- und Transportarbeiter-Gewerkschaft RMT darum vorgeworfen, die Wirtschaft des Landes massiv zu schädigen und Landsleute, die dringend zur Arbeit oder zum Beispiel zu Arztterminen und zu anderen wichtigen Terminen müssten, im Stich gelassen zu haben. Auch viele Schüler, die diese Woche Schulabschlussprüfungen hätten, seien wegen des Streiks „übel dran“, warnte Verkehrsminister Grant Shapps.
Die RMT hingegen beschuldigt die Regierung, die 40.000 in der Gewerkschaft organisierten Bahnarbeiter seit Jahren nicht mehr ausreichend bezahlt zu haben, ihnen immer unerträglichere Arbeitsbedingungen zuzumuten und zugleich Massenentlassungen im gesamten Bahnsektor vorzubereiten. Gerade angesichts der drastisch steigenden Lebenshaltungskosten in Großbritannien hält RMT-Generalsekretär Mick Lynch die Regierungspolitik für einen „Skandal“.
Gewerkschaft fordert sieben Prozent
Während die RMT mindestens sieben Prozent an Lohnerhöhung fordert, wollen die diversen Bahnbetriebe, die an Regierungsweisungen gebunden sind, höchstens drei Prozent bewilligen – und das auch nur, solange die Gewerkschaft den vorgesehenen Entlassungen und gewissen Veränderungen ihrer Arbeitsbedingungen zustimmen.
„Wir brauchen eine modernere Eisenbahn“, hat dazu Verkehrsminister Shapps erklärt. Die Gewerkschaft „sabotiere“ alle Reformbemühungen. RMT-Boss Lynch wiederum wirft Shapps und Premierminister Boris Johnson vor, seitens der Regierung keinerlei Vermittlungsversuche gemacht zu haben, um zu einer Einigung zu kommen. Shapps habe die Konfrontation aus rein politischen Gründen „fabriziert“.
Hintergrund des Konflikts ist die in die Höhe geschossene Inflationsrate, die bereits bei neun Prozent liegt und nach Schätzung der englischen Zentralbank, der Bank of England, im Herbst bei elf Prozent liegen wird. Manche Lebensmittel sind bereits um 20 Prozent teurer als im vorigen Jahr.
Lehrer, Ärzte, Krankenpfleger, Strafverteidiger signalisieren Streikwillen
Angesichts dieser Situation erwägen auch einige der größten Gewerkschaften des Landes, in Kürze zu Urabstimmungen aufzurufen. Lehrer, Ärzte, Krankenpfleger, Strafverteidiger und Mitarbeiter kommunaler Dienste haben allesamt Streikwillen in den letzten Tagen signalisiert. Vielerorts wird inzwischen mit einem „summer of discontent“, einem Sommer generellen Unmuts und zunehmender Arbeitskämpfe gerechnet. Die RMT-Gewerkschaft hat ihrerseits angekündigt, sie würde ihren Streik „notfalls monatelang“ fortsetzen – insbesondere falls die Regierung ihre Drohung wahr mache, mit einer Gesetzesänderung den Einsatz von Agenturarbeitern zu ermöglichen, um den Streik zu brechen.
Unterdessen stellten sich gestern Dutzende linkssozialistische Labour-Abgeordnete gegen den Willen ihres Parteichefs Sir Keir Starmer den an den Bahnhöfen aufgezogenen Streikposten der Eisenbahner demonstrativ an die Seite. Im Regierungslager wird der Streik bereits „Labours Streik“ genannt.