Wird Russlands mörderischer Krieg in der Ukraine ewig dauern? Könnte uns ein weiteres Virus in den Lockdown schicken? Droht eine bösartige KI die Menschheit zu ersetzen oder erwischt uns der Klimawandel zuerst?

Gedankengebäude oder politische Haltungen, die auf alten Trennungen zwischen Gut und Böse basieren, geraten angesichts unserer sich auflösenden Welt ins Wanken. Einer Welt, in der man den Schwachen vom Schändlichen nicht mehr trennen kann. Einer Welt, in der das Überleben unmöglich werden könnte ohne eine Grauzone zu betreten.

Die heurige Ausgabe des steirischen herbst widmet sich von 21. September bis 15. Oktober dem figurenzentrierten Erzählen und erschafft eine lebendige Welt mit einer Reihe von unwahrscheinlichen, fast märchenhaften Protagonist:innen, real oder erfunden. Sie sind weder Heldinnen noch Bösewichte großer literarischer Gattungen, sondern gehören eher zu einem kleinen, widerständigen Genre. Sie sind gaunerhaft, resilient, fehlerhaft, vielleicht auch ein wenig komisch, und ähneln den charismatischen Figuren des Schelmenromans – einer Prosagattung, die im Europa des 16. Jahrhunderts auftauchte, bevor der Roman (und sein Förderer, das Bürgertum) seine volle Macht entfaltete. Gleichzeitig aktivieren die hier gezeigten Figuren und Kunstwerke das dämonische Imaginäre eines immer noch irgendwie mittelalterlichen Schauplatzes. Vier Gruppenausstellungen und ein dichtes Programm an Performances und Diskussionen bieten fantasiereiche Anknüpfungspunkte, um Graz und seine Welt neu zu entdecken – und dabei den scheinbar unbedeutenden, unheimlichen, manchmal merkwürdig optimistischen Geschichten der Stadt zu lauschen.

Die Ausstellungen

Demon Radio
Im Gr
azer Hügelland, in einem ansonst noblen Viertel mit Villen und Institutsgebäuden, befindet sich ein heruntergekommenes Callcenter eines Mobilfunkanbieters. Mit seiner rasterförmigen, modernen Architektur und dem markanten Funkturm wirkt es wie eine Mischung aus der Abhörstation eines wachsamen Geheimdienstes und einem Funkhaus. Stellen Sie sich das Gebäude als Sitz von Demon Radio vor, durch das eine unserer Figuren, der ominöse und charismatische Dr. Jazz, geistert.

Wo? Hilmteichstraße 113, 8043 Graz
Wann? Di. bis So., 11 bis 19 Uhr. Eintritt frei dank AK Steiermark
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"Demon Radio" in der Hilmteichstraße 113
"Demon Radio" in der Hilmteichstraße 113 © Zuleikha Chaudhari, Rehearsing Azaad Hind Radio (2018), Installationsansicht, mit freundlicher Genehmigung der Künstlerin

Villa Perpetuum Mobile
In unserer Vorstellung wird das Forum Stadtpark zum Wohnsitz eines Dissidenten an mehreren Fronten: der Physiker, Dichter und zeitweilige Psychiatriepatient Stefan Marinov (1931–1997). Marinov genügte es nicht, gegen die kommunistische Regierung seiner Heimat Bulgarien zu opponieren, er wandte sich auch gegen Einsteins Relativitätstheorie. In den 1970er-Jahren emigrierte er und verbrachte die letzten Jahrzehnte seines Lebens in Graz, wo er sein eigenes "Institute of Fundamental Physics" gründete und tagsüber als Pferdepfleger arbeitete.

Marinov konzentrierte seine Energien hauptsächlich auf die Erfindung eines Perpetuum mobile. Als seine Experimente scheiterten, stürzte er sich von einer Freitreppe der Grazer Universitätsbibliothek in den Tod. Die Installation im Forum Stadtpark verbindet Marinovs Bücher und Dokumente mit Werken von Künstler:innen, die sich mit den physikalischen Prinzipien beschäftigen, die ihn verfolgten.

Wo? Forum Stadtpark, Stadtpark 1, 8010 Graz
Wann? Di. bis So., 11 bis 19 Uhr. Eintritt frei dank AK Steiermark
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Church of Ruined Modernity
Eine der Künstler:innen, die früh in der Geschichte des Minoritenklosters als Ausstellungsort gezeigt wurde, war Mira Schendel (1919–1988), eine in Brasilien lebende abstrakte Malerin und Grafikerin. Inspiriert von ihrer geisterhaften Präsenz wird das Kloster nun zu einer "Church of Ruined Modernity" – ein Symbol für den Kontinent, den Schendel zurückgelassen hat.

Wo? Minoritenkloster und Minoritenzentrum Graz, Mariahilferplatz 3, 8010 Graz
Wann? Di. bis So., 11 bis 19 Uhr. Eintritt frei dank AK Steiermark
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Submarine Frieda
Stellen wir uns den Bezirk Gries als unter den Wassern der Vergangenheit begraben vor. In seinem Herzen liegt die Zeitkapsel des Submarine Frieda, ein ehemaliger Supermarkt, hinter dem sich ein ehemaliger Tanzsaal verbirgt. Aus diesem U-Boot heraus, das tief unter grünliches Wasser getaucht ist, kann man das Treiben in diesem äußerst lebendigen und außergewöhnlichen Bezirk beobachten, der fast eine Stadt für sich darstellt.

Frieda spielt in diesem Szenario die zufällige, fiktive Heldin. Sie entstand, als Mitglieder einer pazifistischen Organisation, die zwischen dem Ersten und dem Zweiten Weltkrieg aktiv war, das Foto einer Demonstration von 1925 veränderten und aus Angst vor der NS-Verfolgung das Wort „Friede“ in „Frieda“ änderten. Ihre Aktion erinnert daran, wie Kryptoprotest und Absurdität als Überlebensstrategien in heutigen Diktaturen funktionieren. Frieda steht für all die anonymen Held:innen der Vergangenheit, die durch den Mahlstrom der Unterdrückung geschwommen sind.

Wo? Griesplatz 6, 8020 Graz
Wann? Di. bis So., 11 bis 19 Uhr. Eintritt frei dank AK Steiermark
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Performances und Konzerte

An den Eröffnungstagen und während des ganzen Festivals finden aufregende, neu in Auftrag gegebene Performances statt. Sie wagen sich in verschiedene Grauzonen und untersuchen beunruhigende, zwiespältige Situationen in Vergangenheit und Gegenwart.

21.9., 17 Uhr: Lulu Obermayer
Agoraphobia (2023)

21.9., 20.30 Uhr
23.9., 19 Uhr
Adrienn Hód / HODWORKS
Voice of Power (2023)

Adrienn Hód (Performance) am 21. und 23. September in der Helmut List Halle
Adrienn Hód (Performance) am 21. und 23. September in der Helmut List Halle © (c) Daniel Dömölky

22.9., 13 und 16 Uhr
23.9., 24.9., 14, 17 und 20 Uhr
Giacomo Veronesi
Border EUphoria (2023)

22.9., 19 Uhr
ILYICH

22.9., 23.9., 22 Uhr
Michael Portnoy
The Society of Societies (A Room with New Rules) (2023)

23.9., 10.30​ Uhr
Mateja Bučar
Annenlinie (2023)

29.9., 30.9., 16 bis 19 Uhr
Jasmina Cibic
​Protocol for Utopia: The Dreams We Call Our Own (2023)

29.9., 30.9., 19 Uhr
Madame Nielsen
The Silver Dollar Duke Royal Flush Gala (2023)

28.9., 29.9., 6.10., 7.10., 13.10., 14.10., 20 Uhr
Theater im Bahnhof
Das demokratische Abendessen (2023)

"Das demokratische Abendessen" vom Theater im Bahnhof: Am 28. 9., 29. 9., 6. 10., 7. 10., 13. 10., 14. 10., 20 Uhr im TiB
"Das demokratische Abendessen" vom Theater im Bahnhof: Am 28. 9., 29. 9., 6. 10., 7. 10., 13. 10., 14. 10., 20 Uhr im TiB © Thümmel

Entstanden in Kooperation mit dem steirischen herbst.