Es ist eine karge Zeit auf der Alm. Und gleichzeitig eine sehr reiche. Es ist eine einsame Zeit auf der Alm. Und gleichzeitig eine voller Leben. Für Christina Gollner birgt diese Zeit vor allem etwas, nach dem sie sich ihr Leben lang gesehnt hat. „Wenn ich oben bin am Berg, dann frage ich mich nicht mehr nach dem Sinn, dann ist er einfach da“, sagt sie. Ihr persönliches Glück, das bei weitem nicht immer nur Glück, sondern auch Angst, Entbehrung, Zweifel und Sorgen bedeutet, hat Christina auf der Maureralm gefunden. Als Hirtin.
Auf rund 9000 Almen werden in Österreich jedes Jahr fast eine halbe Million Rinder, Schafe, Ziegen und Pferde gehalten. Die Almwirtschaft zählt zu den ältesten Wirtschaftssystemen in den europäischen Alpenländern und ist für die Bauern Beitrag zu Tiergesundheit, Landschafts- und Kulturpflege und Tradition.
Vom Glück auf den zweiten Bilck
Für die Menschen, die es heutzutage noch auf sich nehmen, weit weg von der Zivilisation die Tiere am Berg zu betreuen, ist es weit mehr als ein Job. So auch für Christina. Ob sie keine Angst hat, wenn sie ganz alleine da oben in den Bergen übernachtet? „Vor was denn?“, sagt sie und lacht. Eine Frage, die ihr übrigens immer nur Frauen stellen. Aber vielleicht ist das Übernachten in der „Wildnis“ ja etwas, das man einfach einmal gemacht haben muss, damit es den Schrecken verliert. Und ganz allein ist Christina nicht, wenn sie im Sommer drei Monate lang hoch oben am Großvenedigermassiv verbringt. Mit dabei sind die ihr anvertrauten Kühe und Leihhündin Lilli. Hört sich fast kitschig an, das ist es aber so gar nicht. „Wer nicht selbst mal Hirte war und dieses einfache, einsame und anstrengende Leben geführt hat, das nicht nur schönes Wetter kennt, kann sich das nicht vorstellen. Oft bin ich durchgefroren, von oben bis unten nass, hab Sorgen um meine Tiere – und trotzdem bin ich glücklich.“
Hirte zu sein, in den Bergen zu leben, bedeutet nicht nur Freiheit, Selbstbestimmung und sinnvolles Tun, sondern manchmal auch Selbstzweifel, Trauer und den Mut, sich dem Schicksal zu fügen, ganz gleich, wie sehr man versucht, die Gefahr zu meiden. Manchmal, da wiegt die Verantwortung schwer, so wie in dem Moment, als im letzten Jahr zwei von Christinas Kühen gemeinsam tödlich abgestürzt sind. Solche Vorfälle prägen. Nachhaltig. „Niemand hat mir einen Vorwurf gemacht, aber natürlich hab ich mich verantwortlich gefühlt. Da hätt’ ich am liebsten abgebrochen und wäre zurück in mein bequemes Leben im Tal geflüchtet. Aber ich hatte ja die Verantwortung für den Rest der Mannschaft. Dann reißt man sich zusammen und macht weiter.“
Mit ihren restlichen 46 Kalbinnen zieht sie weiter in die Höhe und in die Pfarfhütte. Einsam fühlt sie sich dort nur, wenn sich Besuch nach schönen Stunden oder Tagen wieder aufmacht ins Tal. „Man verändert sich, wenn man viel allein ist, weil man merkt, dass es auch ohne andere Leut’ und deren Bestätigung geht.“ Die wichtigsten „Bezugspersonen“ am Berg sind und bleiben für Christina die Tiere. Warum? „Tiere sind ehrlich und sie urteilen nicht. Es gibt keine Ausreden, Notlügen oder verschleierten Wahrheiten. Mit den Tieren zusammen zu sein, ist für mich pure Lebensqualität.“
Wo kein Schatten, da kein Licht
Und so bringt das Leben in der Natur, weit weg vom Alltag, vom Berufsstress, von den Anforderungen der Gesellschaft auch viel Wunderschönes, Wertvolles. „Natürlich stößt man manchmal an seine Grenzen, aber das hat mich stärker gemacht. Den Leistungsdruck, dem man im Tal ständig gerecht werden muss, gibt es auf der Alm nicht. Das einfache Leben bringt einen wieder näher an das Wesentliche“, sagt sie. In wenigen Tagen macht sie sich zum zweiten Mal auf, auf die Maureralm. Was sie denkt, so kurz vor ihrem zweiten Abenteuer als Hirtin? „Vorfreude! Ganz viel Vorfreude! Aber natürlich auch Respekt, der schwingt immer mit.“