In Österreich könnte sich der Mangel an erschwinglichen Wohnungen durch die neue Regierung verschärfen, womit Zustände wie in vielen deutschen Großstädten oder in Großbritannien drohen könnten. Diese Sorgen vor allem von SPÖ-Referenten prägten eine wohnungspolitische Tagung in Krems (NÖ). Aber auch Experten aus dem In- und Ausland warteten mit entsprechend alarmierenden Befunden auf.
Vor allem in den Ballungsräumen gebe es einen steigenden Bedarf an preiswerten Wohnungen, wobei die Mietenanstiege seit einem Jahrzehnt der Entwicklung der Reallöhne davongaloppierten, speziell bei einkommensschwächeren Menschen, sagte der Wohnungs- und Stadtentwicklungsexperte Justin Kadi von der TU Wien. Der Anteil günstiger geförderter Wohnungen an den Fertigstellungen, der Anfang der 1990er noch 80 Prozent ausgemacht habe, sei schon vor Jahren von frei finanziertem Wohnraum überflügelt worden. Wohnen etabliere sich zunehmend als Anlageform, etwa in Form von Vorsorgewohnungen, das treibe die Preise und verknappe ein preiswertes Angebot weiter.
Regierung hat abgeschrieben
Am türkis-blauen Regierungsprogramm ist dem TU-Experten beim Kapital Wohnen eine ziemliche Übereinstimmung mit aktuellen Forderungen des Österreichischen Verbandes der Immobilienwirtschaft (ÖVI) aufgefallen, einzelne Passagen seien sogar wortident. "Ich war selbst überrascht beim Vergleich", so Kadi. Es werde hier vor allem den Eigentümerwünschen Rechnung getragen. Sollte das VP-FP-Programm umgesetzt werden, würden Mietern weitere Belastungen drohen - etwa wenn das Lagezuschlag-Verbot in Gründerzeitvierteln aufgehoben werde, wie intendiert. Davon wären laut Kadi circa 100.000 Wohnungen in Wien betroffen, bei denen im Zuge einer Liberalisierung des Mietrechtsgesetzes (MRG) eine Erhöhung der monatlichen Miete um 1,36 bis 3,34 Euro pro Quadratmeter drohe. Fehlen würden im Programm dagegen Hinweise, wie man die steigenden Bodenpreise in den Griff bekommen und den geförderten, sozial langfristig gebundenen Wohnbau wieder ankurbeln könnte.
SPÖ-Wohnbausprecherin Ruth Becher wertete die Pläne der neuen Regierung als einen Paradigmenwechsel und sicherte am Donnerstagabend zu, das Thema "offensiv" anzugehen: "Die Menschen spüren es ja, wenn sie keine leistbare Wohnung finden. Wir dürfen uns nicht die Gesellschaft auseinanderdividieren lassen." Sonst gebe es dann womöglich "Entwicklungen wie in England". Noch schärfer formulierte es Andrea Brunner, die SPÖ-Vize-Bundesgeschäftsführerin: "Wir werden dem Paradigmenwechsel nicht kampflos zustimmen", meinte sie als Keynote-Rednerin in Vertretung des verhinderten SPÖ-Chefs Christian Kern. Eigentlich sollten fürs Wohnen nicht mehr als 25 Prozent der verfügbaren Einkommen aufgehen, sagte sie, tatsächlich seien es aber schon rund 40 Prozent, was vor allem junge Menschen vor Probleme stelle. Vorsorgewohnungen würden nur Geld binden und den verfügbaren Wohnraum verknappen, meinte sie und erteilte auch den Mietkauf-Ideen der Regierung eine Absage. Nötig sei vielmehr ein Grundstückspreisdeckel, eine Baulandmobilisierung und dabei die Absicherung des sozialen Wohnbaus als eigene Widmungskategorie.
Immer mehr Kurzfristmieten
Der Markt sei nicht in der Lage, die Wohnungsversorgung zu gewährleisten, das gelte zumindest für die Städte, meinte Kurt Stürzenbecher, Wohnexperte der SPÖ in Wien. Am freien Markt gebe es immer mehr Kurzfristmieten - bei den bis zu zwei Jahren laufenden seien die Nettomieten mit 6,8 Euro pro Quadratmeter spürbar höher als die 5,4 Euro pro Quadratmeter im Gesamtschnitt; hinzu kämen noch 2 Euro je Quadratmeter an Betriebskosten. Der neuen Regierung warf er in Vertretung des Wiener Wohnbaustadtrats Michael Ludwig vor, sie wolle den sozialen Wohnbau für die Mittelschicht uninteressant machen und diese Gruppen den privaten Vermietern zuführen. Auch die im Koalitionsprogramm angedachten Einkommenskontrollen im geförderten Sektor, um dann allenfalls höhere Mieten vorzuschreiben, sollten "Gewinne für neoliberale Kräfte generieren". Das wäre ungerecht, so Stürzenbecher: Auch von Menschen in geförderten Eigenheimen am Land verlange man nicht, dass sie später ausziehen sollen, wenn sie mehr verdienen.
"Der Schatten der neoliberalen Politik legt sich jetzt auf die deutschen Großstädte", konstatierte der Wohnungsexperte Andrej Holm von der Humboldt Universität Berlin nach umfangreichen Studien in der Hauptstadt und - für die Hans Böckler Stiftung - in 76 weiteren Städten. Sein Befund: "Die Großstädte sind auf dem Weg in eine Wohnungskrise." Und unerwartet dabei: In Berlin sei gerade unter einer rot-roten Regierung (von der SPD und dem "Linken"-Vorläufer PDS) sehr viel verbockt worden, auf Bundesebene unter anderem im Jahr 1989 durch die Abschaffung der Wohnungsgemeinnützigkeit. Ab 2005 hätten sich die Neuvertragsmieten von den relativ konstanten Bestandsmieten entkoppelt und würden seither in die Höhe schießen. Das führe zu einer Immobilität der Menschen: "Niemand zieht mehr aus, weil eine neue 2-Zimmer-Wohnung teurer ist als eine alte 4-Zimmer-Wohnung, auch wenn diese für eine Person allein zu groß geworden ist." Das stelle für neue Mieter eine besondere Hürde dar.
Explodierende Kaufpreise
Der wahre Preistreiber seien die explodierenden Kaufpreise für bebaute Grundstücke - denn der Handel damit biete sehr hohe, ungebremste Rendite-Optionen. Obwohl dadurch keine einzige neue Wohnung entstehe, konzentriere sich ein großer Teil der Transaktionen mit Wohnimmobilien genau darauf, so Holm. Deren Preisanstieg erfolge wegen der sehr hohen Ertragserwartungen. Die Folge sei, dass 2007 noch 36 Prozent der Berliner Wohnungen eine "angemessene Miete" aufgewiesen hätten, 2015 nur noch 4,5 Prozent.
Dieses "Drama" erfolge primär zulasten der Geringverdiener: "Die sind faktisch von der Wohnungsversorgung ausgeschlossen. Die müssen weit aufs Land hinaus ziehen, jenseits des Speckgürtels." Auch die Mietpreisbremse schaffe es in den meisten Städten nicht, Wohnungen zur Leistbarkeit zu bringen. Denn auch 6,50 Euro je Quadratmeter Nettokaltmiete seien nicht für alle günstig, manche könnten sich nicht einmal 4 Euro leisten. Die Versorgungslücke an leistbaren Wohnungen für ganz Deutschland bezifferte der Experte bei dem Symposium des Verein für Wohnbauförderung (vwbf) mit fast 2 Millionen, bei 40,6 Mio. Wohnungen im ganzen Land.
Der Brite Derek Long, Direktor beim Berater Arc4 und Vorstand einer Wohnbauvereinigung, skizzierte die aus seiner Sicht verfehlte Politik der Konservativen seit der Ära Margaret Thatcher. Schon seit dem Jahr 1980 werde in Großbritannien im Neubau das Ziel von 250.000 neuen Einheiten pro Jahr nicht erreicht, und die Wohnungspreise würden rascher als die Einkommen steigen - schloss sich der Experte seinen Vorrednern aus Deutschland und Österreich an. Die Conservative Party forciere Wohnungseigentum, "das hat aber in den letzten Jahren in keiner europäischen Volkswirtschaft funktioniert. Damit wird nur der Immobilienmarkt angeheizt." Heute sei jeder zweihundertste Brite ohne permanenten Wohnsitz - auch eine Folge der Politik, die Sozialwohnungen zurückzudrängen. Zweifellos werde den Großteil des Neubaus immer der Markt leisten müssen. "Aber die Ärmsten der Armen dürfen nicht an den Rand gedrängt werden", sagte der Brite. Labour-Chef Jeremy Corbyn wolle einen ganz klaren Fokus auf den Neubau legen und 100.000 leistbare Wohnungen zusätzlich errichten; auch wolle er ein "Revival" der Sozialmieten und ein "Rebranding" des Sozialwohnungsbaus. "Das könnte aber nur eine Labour-Regierung ändern." Freilich habe Corbyn bisher drei wichtige Parlamentswahlen verloren.