Sie haben Ungarn erstmals nach 44 Jahren wieder zu einer EM-Endrunde geführt. Wie ordnen Sie diesen Erfolg ein?
BERND STORCK: Dieser Erfolg ist unglaublich, aber nur sekundär für mich. Primär geht es um das Land Ungarn. Ich hoffe, dass das ein Anfang für eine bessere Zukunft ist.

Wobei die Vergangenheit grandios war.
STORCK: Wir dürfen die Ära Puskas, in der die Nationalmannschaft von 1950 bis 1954 in 31 Begegnungen in Folge ungeschlagen blieb, nicht vergessen. Aber es lebt kein einziger mehr aus der Mannschaft der 1950er-Jahre. Wir müssen an die Zukunft denken. Die Zuseher sind verwöhnt, weil sehr viele ältere dabei sind. Aber dieser extreme Druck ist für den Nachwuchs nicht gut. Dieser Weg, dass du nach einer schlechten Leistung nicht mehr spielst, ist nicht gut. Man muss den Mut haben, dass sich die Jungen weiterentwickeln. Ich bin überzeugt, dass diese Mannschaft neue Geschichte schreiben kann.

Sie reden nicht nur davon, sondern haben auch den Mut gehabt, Talente einzusetzen, die bei ihren ungarischen Klubs nicht gespielt haben.
STORCK: Als U20-Teamchef habe ich schon einige Spieler in meinen Reihen gehabt, die ich jetzt hochgezogen habe. Die haben schon bei der U20-WM in Neuseeland groß aufgezeigt. Wir haben viele talentierte Spieler, man muss nur das Potenzial sehen.

Warum fällt das den ungarischen Klubs so schwer?
STORCK: Viele Klubs gehören Leuten, die mitentscheiden. Nicht umsonst gibt es Bonussysteme, die Vereine finanziell belohnen, wenn sie junge Spieler einsetzen. Aber ist es nicht traurig, dass wir den Klubs Geld zahlen müssen, damit sie junge Spieler einsetzen? Aber ohne dieses System wären viele junge Spieler kein Thema für die EM.
Seit einem Jahr sind Sie bereits Sportdirektor in Ungarn.

Was gibt es da noch zu tun?
STORCK: Wir müssen mehr Professionalität auf allen Ebenen reinbringen. Wir haben auch nur zwei, drei Akademien, die mit Deutschland zu vergleichen sind.

Also ist Ihr Heimatland eine Art Vorbild?
STORCK: Es liegt auf der Hand, dass ich auf mein eigenes Land schaue. Ich weiß, wie die Akademien arbeiten, wie Talente gefördert werden und wie dort trainiert wird.

Sie sind seit Juli 2015 Teamchef der Ungarn, anfangs mit wenig Gegenliebe.
STORCK: Nach dem Abgang von Vorgänger Pal Dardai zu Hertha BSC war ich die interne Nachfolger-Lösung. Es war ein großer Vorteil, dass ich sehr eng mit Pal befreundet bin und er mir sehr geholfen hat. Den Job von einem Helden im Land zu übernehmen, ist nicht einfach. Am Beginn waren die Leute skeptisch, weil sie mit mir als Nachfolger nichts anzufangen wussten. Da ist es mir ähnlich wie Marcel Koller, den ich für einen tollen Menschen und Fußball-Fachmann halte, in Österreich gegangen. Aber konsequent seinen Weg zu gehen, macht sich bezahlt. Ich habe einige Entscheidungen getroffen, die die Leute nicht nachvollziehen konnten. Aber ich bin sehr geradlinig und entscheidungsfreudig.

Die Veränderungen haben sich bezahlt gemacht.
STORCK: Bis zum Ende der Qualifikationsphase habe ich keine Veränderungen vorgenommen und mit vielen Kompromissen das Bestmögliche rausgeholt. Aber für das Play-off gegen Norwegen war klar, dass ich meinen Weg gehen muss mit meinen Leuten, Trainern und Spielern. Ich war der einzige Teamchef in Europa, der nur Teilzeittrainer um sich gehabt hat.

Gabor Kiraly genießt das Vertrauen von Trainer Storck
Gabor Kiraly genießt das Vertrauen von Trainer Storck © GEPA pictures

Bei all den jungen Spielern haben Sie der ungarischen Legende Gabor Kiraly trotz seiner 39 Jahre das Vertrauen im Tor ausgesprochen. Ist er ein Schlüssel zum Erfolg?
STORCK: Ich habe ihn entdeckt und Ende der 1990er zur Hertha nach Berlin geholt. Gabor ist eine Institution, die noch immer seine Leistung bringt. Noch dazu ist diese Weltklasse. Man muss ganz klar sagen: Ohne ihn hätten wir es nicht zur EM geschafft. Er ist das Aushängeschild und immer noch ein toller Fußballer. Aber klar ist, dass die Vergangenheit nichts hilft, die aktuelle Leistung ist entscheidend.

Wie fühlen Sie sich in Ungarn?
STORCK: Die Menschen sind sehr freundlich, ich fühle mich sehr wohl. Ich lebe auch in Ungarn, meine Familie aber in Berlin. Wir wollten unsere kleine Tochter nicht wieder aus der Schule rausnehmen. Aber sie kommen mich fast jedes Wochenende besuchen.

Was erwarten Sie sich von der EM-Vorrundengruppe mit Österreich, Island und Portugal?
STORCK: Österreich ist der Favorit, mit Portugal zusammen. Wir konzentrieren uns auf Platz drei, sind mit Island der Außenseiter.

Was gefällt Ihnen am österreichischen Nationalteam?
STORCK: Das ist eine Topmannschaft mit vielen Legionären. Mir gefallen David Alaba und Julian Baumgartlinger. Es sind viele hervorragende Spieler dabei, aber dieses Mittelfeld ist das Prunkstück, das Herz der Mannschaft.

INTERVIEW:
MICHAEL LORBER