Während Italien nun im Viertelfinale steht und dort gegen Deutschland kämpft, wird ein Mann zuhause vor dem Fernseher sitzen, und sich in Erinnerung schwelgend fragen, was eigentlich alles sein hätte können.

Denn Mario Balotelli wurde von Teamchef Antonio Conte nicht für die EM berücksichtigt, ihm bleiben graue Gedanken an bessere Tage - zum Beispiel an jenen 28. Juni 2012, Europameisterschaft in Polen und der Ukraine. Balotelli zerpflückt das deutsche Nationalteam im Alleingang, reißt sich beim Jubeln demonstrativ das Trikot vom Leib und erinnert mit seinem stoischen wie ernsten Gesichtsausdruck ein bisschen an den unglaublichen Hulk. Mit dem Bild schreibt Balotelli Geschichte. Es zeigt einen, der mit damals 21 Jahren schon alles erlebt hat. Und doch noch so viel erleiden muss.

Die Ich-AG im Mannschaftssport

Im Oktober 2011 manifestiert sich Balotellis Bild in der Fußballwelt durch einen ikonisch gewordenen Auftritt. Nachdem er im heimischen Badezimmer ein Feuerwerk gezündet hatte und Nachwuchsspieler seines damaligen Vereins Manchester City mit Dart-Pfeilen durchs Jugendzentrum jagte, zog er sich beim Torjubel das Trikot hoch und gestattete so einen Blick auf sein individuell beflocktes Unterhemd: "Why always me?" - "Warum immer ich?". Der Stürmer schreit damit nach gerechter Behandlung vom englischen Boulevard, fühlt sich als Zielscheibe reißerischer Berichterstattung.

Doch Balotellifordert die Medien ständig heraus. Er schafft es, trotz gefinkelter PR-Strategen, die jedem Fußballer das letzte bisschen Individualität glatt bügeln, die Schlagzeilen zu beherrschen und definiert somit das Zeitalter des Ichs im Fußball. Balotelli ist die Kim Kardashiandes Sports, tappt so grazil wie ein Elefant von einem Fettnäpfchen ins nächste. 2014 etwa postet er ein Foto auf Instagram, das ihn mit einem Gewehr zeigt. Darunter schreibt er: "Ein großer Kuss an alle, die mich hassen." Deswegen immer Balotelli. Wer sonst?

Letzte Chance bei Besiktas Istanbul?

Wenn der mittlerweile 25-jährige Stürmer im Spiel gegen Deutschland 2012 am Fußballolymp obenauf war, so ist er heute ganz unten. Aber nicht bloß aufgrund privater Streitereien mit seiner Ex-Freundin, diversen Postings oder mehreren Strafen wegen Raserei, sondern hauptsächlich aufgrund seiner sportlichen Verfehlungen. Denn Balotelli bringt alles mit, was ein Topstürmer braucht: Technik, Dynamik, Schnelligkeit und den viel zitierten Torriecher. Doch er enttäuscht. Immer und immer wieder. Ob bei Manchester City, beim FC Liverpool oder aktuell beim AC Milan. Der mittlerweile entlassene Coach Sinisa Mihajlovicsagt über ihn: "Er muss reifer werden, Mario konzentriert sich nicht."

In 20 Ligaspielen in der abgelaufenen Spielzeit bei den Rossoneri trifft Balotelli genau ein einziges Mal. Conte verzichtet auf ihn: "Er muss noch so, so, so viel beweisen." Das könnte er vermutlich in der Türkei: denn Berater Mino Raiola geht bereits davon aus, dass Balotelli in der kommenden Saison bei Besiktas Istanbul spielt. Und weiter von den großen Zeiten träumt. Wie von der EM 2012. Und von allem, was noch kommen hätte können.