Nicht erst im Wahlkampf haben Europa-Gegner den starken Eingriff der Union in den Alltag der Menschen als Thema entdeckt. Doch jetzt, wo um jeden der 751 Sitze im Parlament gerungen wird, wollen sie vom Ärger über die Bevormundung besonders profitieren. Das Verbot der Glühbirnen, die Regeln, wie WC-Anlagen, Duschköpfe, Staubsauger, Menükarten oder Zigarettenpackungen auszusehen haben, dienen als willkommene Beispiele.
Die EU reguliert zu viel, dieser Meinung sind 74 Prozent der EU-Bürger laut einer Eurobarometer-Umfrage. Der Rechtsbestand der EU umfasst bald an die 100.000 Seiten - und dass nicht alles sinnvoll war oder ist, was im langwierigen Gesetzgebungsverfahren je an Normen beschlossen wurde, ist unbestritten. Das einstige Paradebeispiel für die mutmaßliche Regulierungswut, die viel gescholtene Gurkenkrümmung, ist indes seit 2009 wieder außer Kraft.
Das ist auch das Stichwort für hochrangige EU-Vertreter, die, um den Populisten von rechts und links den Wind aus den Segeln zu nehmen, eine Gegenoffensive starteten und nun auf einen Bürokratieabbau drängen.
"Ich möchte die gesamte EU-Gesetzgebung einer Überprüfung unterziehen, ob wir sie brauchen oder nicht", meinte im Februar der französische Binnenkommissar Michel Barnier. "Die Menschen spüren, dass wir uns um zu viele Dinge kümmern." Auch Wirtschaftskommissar Olli Rehn fordert eine Beschränkung der Gesetzgebung auf das Wesentliche. "Europa muss nicht alles Mögliche bis ins Detail regeln. Wir brauchen eine jährliche institutionalisierte Überprüfung, ob EU-Gesetze notwendig sind."
Gesetze gestrichen
Solche Stimmen sind nicht neu. Die EU-Kommission hat bereits im vergangenen Herbst zum Rückzug geblasen. Die EU müsse groß in großen Dingen und klein in kleinen Dingen sein, kündigte Präsident Jose Manuel Barroso an. Wenngleich er aber die Notwendigkeit von Regelungen für den gemeinsamen Markt unterstrich, der den fairen Wettbewerb für alle sichere. Und meinte: "Schlimmer als die europäische Bürokratie ist für mich die Kombination aus 28 nationalen Bürokratien."
Im Oktober 2013 verordnete sich die Kommission das Entbürokratisierungsprogramm "Refit", das unter anderem Richtlinien evaluieren soll. Doch dies scheint lediglich ein Aufguss von bereits Bestehendem zu sein. Der frühere bayrische Ministerpräsident Edmund Stoiber ist noch bis in den Herbst heurigen Jahres Vorsitzender einer Gruppe für Bürokratieabbau in der Union und bilanzierte jüngst über seine bereits sechsjährige Tätigkeit. 23 Millionen Betriebe seien um ein Viertel der bürokratischen Bürden entlastet worden. Die Kommission verweist darauf, dass seit 2005 mehr als 5590 Rechtsakte außer Kraft gesetzt wurden.
Gerade angesichts dieser Zahlen und Fakten bezeichnet Andreas Maurer, aus Deutschland gebürtiger Politikwissenschaftler an der Universität Innsbruck, das Gezerre um den Regulierungswahn als "unaufrichtigen Populismus" - und zwar von beiden Seiten. Dass sich die EU überall einmische, "ist ganz großer Unsinn", sagt Maurer im Gespräch mit der Kleinen Zeitung. Die Rücknahmen von Rechtsakten "sind laufendes Geschäft".
Als Hintergrund der vermeintlich zu vielen Eingriffe der EU in das Leben der Menschen nennt Maurer die Ökodesign-Richtlinie. "Sie ist sehr präzise und ermöglicht es der Kommission, das Ziel, den Energieverbrauch und den Kohlendioxidausstoß um 20 Prozent zu senken, umzusetzen."
Brüssel, der 29. Staat
Der Vorwurf, dahinter stehe eine wild gewordene Bürokratie, entstehe durch die detaillierte Ausgestaltung der Normen. "Es existiert die Vorstellung, in Brüssel sitzen Tausende Beamte, die sich das ausdenken", sagt Maurer. Dabei haben neue Regeln ihren Ursprung so gut wie immer in einem der 28 Mitgliedsländer oder in einer Interessenvertretung. "Die Kommission sollte immer dazu sagen, wer was empfohlen hat", empfiehlt Maurer. Im Populismus ortet der Politikexperte viel Bequemlichkeit. "Man braucht einen viel längeren Text, um zu erklären, warum etwas sinnvoll ist. Einfacher ist es, Brüssel als 29. Staat darzustellen."
Regelungen der EU mit positiven Folgen für das Leben der Menschen werden hingegen als selbstverständlich erachtet. So brachten Marktliberalisierungen den Verbrauchern bares Geld. Der österreichische Telekommunikationsmarkt zum Beispiel ist seit Jänner 1998 liberalisiert und inzwischen einer der umkämpftesten in Europa, was an den vergleichsweise niedrigen Mobilfunktarifen zu spüren ist. Österreich musste außerdem seinen Strommarkt öffnen, seit 2001 kann jeder Kunde seinen Stromlieferanten frei wählen. Dass die Wechselrate 13 Jahre danach immer noch gering ist, steht freilich auf einem anderen Blatt.