Wie kommt es, dass so viele Briten sagen, die EU würgt unsere Demokratie ab? Selbst ein Unternehmer wie James Dyson, dessen Händetrockner in so vielen Klos der EU zu finden sind, sagt das.

EICHTINGER: Die Briten sind sehr stolz auf ihren jahrhundertealten Parlamentarismus und viele empfinden es als störend, dass in Brüssel Kompromisse geschlossen werden, die dann durch das nationale Parlament umgesetzt werden müssen. Vielleicht ist auch ein Faktor, dass es in Großbritannien ein Mehrheitswahlrecht gibt, was bedeutet, dass bei den Parlamentswahlen alle Abgeordneten direkt gewählt werden. Der Entscheidungsprozess innerhalb der EU wird von manchen als bürgerfern empfunden. Die Leave-Befürworter wollen allerdings die EU nicht von innen reformieren, sondern wollen austreten und das Rad der Zeit zurückdrehen. Sie machen sich Hoffnung, dass das Land außerhalb der Union wirtschaftlich und politisch stärker dastehen wird. Sie wollen vor allem auch, dass Großbritannien die Einwanderung besser kontrollieren kann, als das jetzt der Fall ist.

Warum sind so viele Briten EU-feindlich eingestellt?

EICHTINGER: Ich glaube, dass auch im 21. Jahrhundert die Geografie und die Geschichte immer noch eine große Rolle spielen. Wie wir wissen, ist Großbritannien eine Insel und das ist sicher einer der Faktoren, die nicht nur die Mentalität bestimmen, sondern auch die Einstellung gegenüber der EU. Viele Briten sehen Großbritannien nicht wirklich als Teil Europas an. Nicht umsonst sprechen viele Briten von „Europa“, wenn sie das Festland meinen. Reiseführer über Österreich findet man in Buchhandlungen in der Rubrik „Overseas“ (Übersee).

Ist die Abstimmung der Briten der Anfang vom Ende der EU?

EICHTINGER: Nein, das sehe ich nicht so. Aber ein Votum für den Austritt würde sicherlich nicht nur für Großbritannien, sondern auch für die EU als Ganzes wie auch für jeden einzelnen Mitgliedstaat negative Konsequenzen mit sich bringen. Die EU müsste in diesem Falle nach vorne blicken und weiter an der gemeinsamen Lösung der großen Herausforderungen arbeiten. Ist abzuschätzen, wie sehr ein Austritt der Briten dem Land selbst schaden würde?

Ist abzuschätzen, wie sehr ein Austritt der Briten dem Land selbst schaden würde?

EICHTINGER: Es ist anzunehmen, dass viele Firmen aus Drittländern ihre Investitionsentscheidungen revidieren könnten. Die vergangenen Tage haben bereits eine Volatilität des Pfunds gezeigt. Alle Studien sehen eine Abschwächung des Wachstums in Großbritannien voraus. Die volkswirtschaftlichen Auswirkungen sind nicht abzuschätzen, weil viel vom künftigen Verhältnis mit der EU abhängen wird. Wenn das Land austritt, ist es nicht mehr Teil der Union von über 500 Millionen Einwohnern und müsste verhandeln, ob und wie es am Binnenmarkt, an dessen Schaffung Großbritannien maßgeblich beteiligt war, weiter teilnehmen kann. Auch außenpolitisch würde Großbritannien sicher an Gewicht verlieren.

Und die EU?

EICHTINGER: Die EU würde durch den Austritt nicht nur einen seiner größten Mitgliedstaaten und den viertgrößten Nettozahler verlieren. Sie würde auch wirtschaftlich und außenpolitisch geschwächt werden. Letzteres wäre ein großer Rückschlag in einer Zeit, in der die EU große Anstrengungen unternommen hat, um das außenpolitische Profil zu stärken.

Seit der Gründung steckte die EU noch nie so in der Krise: Wie konnte es so weit kommen?

EICHTINGER: In der Geschichte der europäischen Integration hat es immer wieder Krisen gegeben. Die größte Errungenschaft der EU ist, dass die Mitgliedstaaten durch das Schließen von Kompromissen und ein Bekenntnis zu gemeinsamen Zielen Lösungen zur Überwindung von Krisen gefunden haben. Die größte gegenwärtige Krise ist zweifelsohne die Flüchtlingskrise. Das Migrationsproblem bewegt die Gemüter nicht nur in Großbritannien und ist - abgesehen von den Integrationsproblemen - ein sehr emotionelles Thema.

Der Streit in der Flüchtlingspolitik hat Europa geteilt - wie beurteilen Sie hier die Rolle der Briten?

EICHTINGER: Großbritannien hatte im Vorjahr ca. 33.000 Asylwerber und hat zudem angekündigt, in dieser Legislaturperiode 20.000 Flüchtlinge aus Syrien und einige Tausend Waisenkinder aufnehmen zu wollen. Das ist natürlich angesichts der Größe des Landes im Vergleich zu den 90.000 Flüchtlingen, die Österreich allein 2015 aufgenommen hat, sehr wenig. Zugleich muss man anerkennen, dass Großbritannien als eines der wenigen Länder das 0,7-Prozent-Ziel für die Entwicklungshilfe konsequent einhält und auch für die kommenden Jahre budgetär abgesichert hat. Es hat von Anfang an dafür plädiert, die Wurzeln des Migrationsproblems zu bekämpfen, sodass gar nicht erst so viele Flüchtlinge nach Europa kommen. Nach den USA leistet Großbritannien den zweitgrößten finanziellen Beitrag zur Unterstützung syrischer Flüchtlinge in der Region und hat dafür seit 2012 mehr als eine Milliarde Pfund aufgewendet.

Deutschlands Finanzminister Schäuble warnt: Selbst wenn das Referendum knapp für einen Verbleib in der EU ausgeht, könnte man „nicht einfach so wie bisher“ weitermachen. Wie sehen Sie das?

EICHTINGER: Es ist anzunehmen, dass bei einem knappen Verbleib die innenpolitische Situation unruhig bleiben wird, da insbesondere die Konservativen angesichts der existierenden innerparteilichen Gräben zu einer Einigung in der Partei zurückfinden müssen.

Ukip-Chef Nigel Farage sagt, Großbritannien würde nach dem EU-Austritt aufblühen - was halten Sie dem entgegen?

EICHTINGER: Österreichs Erfahrung seit dem EU-Beitritt zeigt die Vorteile einer EU-Mitgliedschaft. Ich bin überzeugt davon, dass die britische Wirtschaft im Falle eines Austritts negative Konsequenzen zu erwarten hat, und zwar schon ehe die Konditionen für den Austritt aus der EU ausgehandelt sind. Die Vorstellungen der Austrittsbefürworter für die Zeit danach sind noch äußerst unklar.

Was hat es mit der „I want my money back“ (Ich will mein Geld zurück)-Mentalität der Briten auf sich?

EICHTINGER: Von der Leave-Seite wird argumentiert, dass die Nettobeiträge Großbritanniens bei einem Austritt besser für das Gesundheitssystem und andere Zwecke verwendet werden könnten. Es wird dabei aber vergessen, dass die Beiträge ja den Zugang zum Binnenmarkt und die Vorteile einer EU-Mitgliedschaft bringen. In vielen Bereichen - Landwirtschaft, Regionalförderung Forschung - gibt es substanzielle Rückflüsse, die den bereits ermäßigten EU-Mitgliedsbeitrag (Briten-Rabatt) weiter reduzieren und dadurch nicht unangemessen hoch erscheinen lassen.

Würde die EU ohne Briten nicht den ganzen Glamour verlieren?

EICHTINGER: Jeder Austritt wäre schmerzlich. Die EU würde sowohl politisch als auch wirtschaftlich an Gewicht verlieren. Zudem würden künftig die sehr geschätzten Beiträge Großbritanniens zur Politikgestaltung in der EU ausbleiben, die der marktwirtschaftlichen Orientierung Großbritanniens folgend in den Bereichen Wettbewerbsfähigkeit, Vollendung des Binnenmarkts oder Bürokratieabbau eine deutliche Handschrift hinterlassen haben.

Großbritannien wird nie Teil eines europäischen Superstaats sein“, sagte Premier Cameron heuer. Wieso stört es die Briten so, Teil eines großen Ganzen zu sein?

EICHTINGER: Das hängt damit zusammen, dass verschiedene Länder verschiedene Zugänge zum Prozess der europäischen Integration haben. Für Großbritannien, das in der Geschichte immer auf den Weltmeeren unterwegs war und vom europäischen Kontinent auf die Welt geblickt hat, war die EU immer primär ein Vehikel für den Freihandel. Nicht umsonst haben die Briten die Schaffung des Binnenmarktes vorangetrieben. Manche anderen europäischen Länder haben einen zentralistischeren, protektionistischeren Ansatz. Es ist klar, dass in einem Klub immer Kompromisse geschlossen werden müssen. Außerdem sind die Briten sehr stolz auf ihre demokratische Tradition und ihren jahrhundertealten Parlamentarismus, was auch die starke Betonung der Souveränität in der gegenwärtigen Referendumsdebatte erklärt. INTERVIEW: MANUELA SWOBODA