Mit dem Vormarsch von Regierungskräften in Falluja verliert der IS eine Hochburg. Militärisch ist er auf dem Rückzug. Den Konflikt zwischen Iraks Schiiten und Sunniten aber könnte die Operation anheizen.

Nach Erfolgen gegen die Terrormiliz IS lassen die Jubelmeldungen der Regierung in Bagdad meistens nicht lange auf sich warten. Auch Ministerpräsident Haider al-Abadi brauchte nach dem Vormarsch regierungstreuer Truppen in das Zentrum der IS-Hochburg Falluja nur wenige Stunden, um vor die Kamera zu treten. Umrahmt von vier hohen Offizieren verkündete er am Freitag die "Befreiung" der Stadt. Abadi störte es kaum, dass die Kämpfe um Falluja zu diesem Zeitpunkt längst noch nicht beendet waren.

Für den schiitischen Politiker ist ein Sieg in der westiraktischen Stadt politisch überlebensnotwendig. Seit Monaten steht der 64-Jährige massiv unter Druck. Schon im vergangenen jahr versprach Abadi Reformen, vor allem  um die mangelhafte Versorgung des Landes mit Strom zu verbessern und die Korruption zu bekämpfen. Vorzuweisen hat er jedoch wenig. So scheiterte er bisher damit, ein Kabinett aus Technokraten einzusetzen, mit dem er den Einfluss der mächtigen Parteien begrenzen will. Doch die wehrten sich erfolgreich.

Abadi fehlt die Hausmacht

Abadi, so ist es in Bagdad immer wieder zu hören, ist zwar guten Willens, ihm fehlt aber eine Hausmacht. Druck bekommt er nicht nur von den Parteien, sondern auch von der Straße. Kleine Demonstrationen auf dem Bagdader Tahrir-Platz verwandelten sich in Massenkundgebungen, als der populäre Schiitenführer Moqtada al-Sadr seine Anhänger zu Protesten gegen die Regierung aufrief. Eine aufgebrachte Menge stürmte sogar die Hochsicherheitszone Bagdads und drang ins Parlament ein. Die irakische Regierung stand am Rande des Kollaps. Erst die Ramadan-Ferien verschafften Abadi eine Atempause.

Der Erfolg in Falluja stärkt ihn und macht den Weg frei, um als nächstes auf die letzte irakische IS-Hochburg Mossul im Norden des Landes vorzurücken. Er könnte aber ausgerechnet das größte Problem des Irak weiter verschärfen: den Konflikt zwischen den Schiiten und Sunniten, den beiden größten Strömungen des Islam.

Schon seit langem klagen Sunniten, die von Schiiten dominierte Regierung diskriminiere sie. So beschuldigen sie die schiitischen Parteien, alle wichtigen Ministerien zu kontrollieren und die einflussreichen Posten mit eigenen Gefolgsleuten zu besetzen.

"Ende des politischen Prozesses nahe"

Der sunnitische Politiker Talal Zoabi, im irakischen Parlament Vorsitzender des Anti-Korruption-Ausschusses, wirft Mitgliedern von Abadis schiitischer Dawa-Partei und anderen Verantwortlichen zudem vor, in dem ölreichen Land Millionen zu veruntreuen. Transparenz und Reformen gebe es nicht, warnt er: "Wenn sich an dem System nichts ändert, dann ist das Ende des politischen Prozesses nahe."

Abadi ist es in den rund zwei Jahren an der Macht nicht gelungen, den Gegensatz zu verringern. Stattdessen dehnen die Schiiten mit dem Vormarsch in Falluja ihren Einfluss aus. Obwohl die Stadt im sunnitischen Kernland des Irak liegt, sind etliche der berüchtigten schiitischen Milizen an der Operation beteiligt.

Diese werden vom Iran unterstützt und stehen de facto außerhalb der Kontrolle Abadis, obwohl er Oberbefehlshaber im Irak ist. In den vergangenen Tagen gab es mehrfach Berichte über Vergeltungsakte schiitischer Kämpfer an sunnitischen Zivilisten, die angeblich den IS unterstützt haben. Politiker aus der Region und Menschenrechtler meldeten sunnitische Tote, Hunderte Festnahmen und Folter.

Profitieren dürfte davon vor allem einer: Daesh, wie die sunnitische IS-Terrormiliz auf Arabisch abfällig genannt wird. Schon in der Vergangenheit hat die Politik der schiitischen Parteien das Misstrauen der Sunniten in ihrer Regierung verstärkt und den Extremisten so Zulauf beschert. Das Institute for the Study of War in Washington warnt deshalb, dass die Präsenz schiitischer Milizen "die Anti-ISIS-Kampagne ruinieren und die Bemühungen der Regierung um eine Versöhnung der Sunniten zurückwerfen könnte". Die Militärexperten fordern deshalb: "Die Milizen müssen zurückgezogen werden."

Militärischer Sieg - politische Niederlage?

Ansonsten könnte sich der militärische Sieg in eine politische Niederlage verwandeln, befürchten Fachleute. So fordert der Nahostkenner Marc Lynch aus Washington, dass die irakische Regierung den Vormarsch in Falluja "als einen nationalen und nicht als einen schiitischen Sieg" reklamiert und sunnitische Zivilisten beschützt.

Auch der US-Nahost-Historiker Juan Cole mahnt dringend eine Versöhnung zwischen Schiiten und Sunniten ein, um den IS wirklich ausschalten zu können. Militärisch gibt er dem IS und seinem "Islamischen Kalifat" keine großen Überlebenschancen mehr, warnt aber zugleich: "Als Regierungsgebilde würde ich Daesh nicht mehr als ein Jahr geben. Als eine Terrororganisation kann er langlebig und tödlich zugleich sein."