Ehrlich, aufsässig und sehr links. Die britische Labour-Partei hat einen Vorsitzenden, an den vor ein paar Wochen niemand geglaubt hätte. Seine Fans feiern Jeremy Corbyn als sozialistischen Superstar. Für das politische Establishment ist die Wahl ein Schock. Mit ungewissen Folgen.

Es war ein echter Corbyn-Moment. Als der Sieg des 66-Jährigen feststand, jubelten seine Fans in der Labour-Partei so enthusiastisch, dass der Mann auf der Bühne sie mehrmals zur Ordnung rufen musste. Jeremy Corbyn, Pazifist, Marx-Bewunderer, Hinterbänkler und notorischer Parteirebell seit 32 Jahren, steht seit Samstag an der Spitze der britischen Sozialdemokraten.

Innerhalb weniger Wochen hat er sich vom chancenlosen Links-Außenseiter zum Favoriten gemausert. Seine Wahl mit fast 60 Prozent der Stimmen ist eine Sensation. Und eine gigantische Herausforderung für die Partei. Denn während der Neugewählte vorn wie ein Rockstar bejubelt wurde, verließen hinten Abgeordnete erbost den Saal.

Schattendasein

Labour ist nicht plötzlich eine linkere Partei, sondern eine gespaltene. "Ich hoffe, er reicht allen Teilen der Partei die Hand", sagte Ex-Parteichef Ed Miliband, der nach der haushoch verlorenen Unterhauswahl zurückgetreten war. Ins Schattenkabinett wolle er nicht.

Manche bezweifeln, dass Corbyn unter den Labour-Abgeordneten überhaupt genug Unterstützer findet, um die vordere Oppositionsbank im Parlament zu füllen. Die ersten Mitglieder des bisherigen Schattenkabinetts zogen sich bereits am Samstag zurück. Die Partei zusammenzuhalten, dürfte zur Mammutaufgabe werden.

Corbyn habe nie Verantwortung übernommen, sondern nur von ganz weit links quergeschossen, werfen seine Gegner ihm vor. Er werfe Labour in die 1980er Jahre zurück. Das meint nicht nur Klassenkampf und Massenstreiks der Thatcher-Ära: Damals tobte innerhalb der Partei auch ein "Bürgerkrieg". Die Krise hatte damit geendet, dass Tony Blair als Premierminister (1997-2007) seinen wirtschaftsfreundlichen New-Labour-Kurs durchsetzte. Jetzt erhielt die Kandidatin aus der Blair-Schule, Liz Kendall, gerade einmal 4,5 Prozent der Stimmen.

Eine "Corbynmania" sei ausgebrochen, titelten die britischen Medien, als die Hallen plötzlich zu klein wurden, wenn Corbyn auf der Bühne stand. Am besten kommt er an, wenn er gegen die Sparpolitik wettert. Großbritanniens Wirtschaftszahlen sehen ordentlich aus nach der Bankenkrise, aber Millionen merken davon nichts in der Geldbörse.

Und so wurden der schmale, eher leise sprechende Politiker mit dem freundlichen Blick zum Hoffnungsträger für diejenigen, die Labour längst als blasse Version der (regierenden) Konservativen um Premier David Cameron abgeschrieben hatten. In Scharen hefteten sich junge, angeblich politikverdrossene Menschen Corbyn-Pins an die Pullover. "Er kommt rüber wie einer, der sagt, was er denkt, und nicht, was er für strategisch klug hält", urteilt der Politologe John Curtis. Damit komme er sogar bei Wählern anderer Parteien an.

Härtetest

Was heißt die Wahl für die britische Politik? Ein erster Härtetest steht Corbyn bevor, wenn Premier Cameron über Luftangriffe in Syrien abstimmen lässt. Das dürfte in absehbarer Zeit geschehen. Und der neue Labour-Chef ist strikt dagegen - wie er schon 2003 gegen den Irak-Krieg und 2014 gegen die Luftangriffe auf die Terrormiliz "Islamischer Staat" (IS) im Irak gestimmt hatte. Die Mehrheit seiner Partei wird ihm wohl nicht folgen, so wie ihm meist egal war, was seine Parteiführung wollte.

Auch wenn der Kampf um Stimmen für und gegen die britische EU-Mitgliedschaft Fahrt aufnimmt, könnte es spannend werden. Spätestens Ende 2017 stimmen die Briten darüber ab, ob sie in der Union bleiben wollen. Der 66-Jährige ist fürs Bleiben - unter Vorbehalt. Die Rolle der EU in der Griechenland-Krise sah der Sozialist äußerst kritisch. Ein leidenschaftlicher Kämpfer für ein Vereinigtes Königreich in der EU? Eher nicht.

Immerhin müssen sich Fans der britischen Royals keine Sorgen machen. Ja, Corbyn ist Republikaner. Aber er ist auch Realist genug, um zu wissen, dass man mit Queen-Kritik in Großbritannien nicht punktet. Am Samstag war seine Priorität sowieso eine ganz andere, wie er sagte: Er werde sich erst einmal dem Demonstrationszug für Solidarität mit Flüchtlingen anschließen.

Teresa Dapp