Es ist kurz nach Mitternacht in Bodrum, dem als "türkisches Saint-Tropez" beworbenen Hafenstädtchen am Mittelmeer. An Tischen mit Blick auf die Ägäis entspannen noch viele Urlauber, als aus dem nahen Wald mehrere Gruppen von Flüchtlingen zum Strand eilen.

Die Erwachsenen tragen Schlauchboote und Paddel, die Kinder laufen nebenher. Ihr Ziel präsentiert sich am Horizont als bunte Lichterkette: die Küste der griechischen Insel Kos, das Eintrittsportal in die ersehnte Europäische Union.

Während sich in der Dunkelheit jeweils ein Dutzend Flüchtlinge mit roten Rettungswesten in die Boote quetscht, ruft eine Stimme "Macht schnell!" Das erste Schlauchboot entfernt sich, zehn Minuten später legt das zweite ab, kurz darauf ein drittes. Schlepper dirigieren das minutiös vorbereitete Manöver mit ihren Taschenlampen. Seit Jahresbeginn haben auf diese Weise zahlreiche Menschen, die vor dem Krieg in Syrien oder dem Chaos in Afghanistan geflohen sind, die nächtliche Überfahrt nach Griechenland angetreten.

Bodrum, bisher eher bekannt für sein quirliges Nachtleben, im Sommer gut besuchte Bars und ausgebuchte Hotels, ist seit Monaten auch Schauplatz der Seepassagen des Elends. Denn nur fünf Kilometer entfernt von den idyllischen türkischen Buchten liegt Kos, das Ziel derjenigen, die in der EU auf ein friedliches Leben hoffen.

Küstenwache

Trotz der Risiken, denen überfüllte Schlauchboote auch auf kurzen Meeresüberquerungen ausgesetzt sind, ziehen die Schlepper seit einem Jahr diesen Weg vor. Denn die türkische Küstenwache inspiziert seitdem schärfer die Frachtschiffe, die bis dahin von den Menschenschmugglern Richtung Italien eingesetzt wurden, erklärt die Internationale Organisation für Migration. Innerhalb von sieben Monaten seien auf diesem Wege 124.000 Flüchtlinge in Griechenland eingetroffen, berichtet die UNO - eine Steigerung um 750 Prozent gegenüber dem gleichen Vorjahreszeitraum.

Sehnsüchtig schauen drei Flüchtlinge, die am Strand zurückbleiben, auf die Lichter von Kos. "So Gott will, bin ich beim nächsten Transport dabei", seufzt einer - seinen Namen will er wie seine Schicksalsgenossen lieber nicht nennen.

Ein 38-jähriger Mann aus der syrischen Hafenstadt Tartus seufzt: "Wir wollen doch nur ein normales Leben führen". Er selbst wisse immerhin, was "leben" bedeute, "aber das Kind hier weiß nicht mal das". Er zeigt auf einen Buben, der nichts als den syrischen Bürgerkrieg und die Flucht kennt.

Dann verliert der Mann die Geduld mit den Schleppern, auf die er nun schon die halbe Nacht wartet. Er ruft sie an und schimpft auf Arabisch: "Schämt ihr Euch nicht? Die Kinder schlafen auf der Straße. Wo bleibt ihr?" Die Schmuggler schicken kurz darauf Taxis, welche die Gruppe abholen, um sie zu einem anderen Strand zu bringen.

Nach Angaben von türkischer Seite gibt es in den Buchten bei Bodrum mindestens acht verschiedene Startpunkte für die Überfahrt auf die nahen griechischen Inseln. "Sind die Wetterbedingungen gut, gibt es also keinen Nebel, wagen pro Nacht rund zweihundert Flüchtlinge die Passage", berichtet ein Behördenvertreter gegen Zusicherung von Anonymität.

Als die Sonne aufgeht und die ersten Urlauber am Strand joggen, ziehen sich die Flüchtlinge nach und nach ins Hinterland zurück. Sie müssen sich in Geduld üben und wollen in einer der nächsten Nächte erneut versuchen, per Schlauchboot das Portal nach Europa zu erreichen.