Rund ein halbes Jahr nach dem islamistischen Anschlag auf die Satirezeitung "Charlie Hebdo" steht Frankreich erneut unter Schock: Nach einem Terrorangriff auf eine US-Fabrik für Industriegase bei Lyon wurde auf dem Gelände ein abgetrennter Kopf gefunden. Er soll in ein Transparent mit arabischen Schriftzeichen eingehüllt gewesen sein. Der mutmaßliche Täter verübte den Anschlag offenbar alleine.

Es gebe keinerlei Hinweise auf einen Komplizen während des Anschlags, sagte Anti-Terror-Staatsanwalt Francois Molins am Freitagabend in Paris. Zeugen zufolge habe sich der Attentäter alleine im Auto befunden, als er auf das Gelände der Industrieanlage nahe der ostfranzösischen Stadt Lyon fuhr.

Vier Festnahmen

Nach dem Anschlag kam es bisher zu vier Festnahmen. Neben dem Attentäter Yassin Salhi wurden auch seine Frau sowie eine Schwester in Gewahrsam genommen. Ein weiterer Verdächtiger wurde zunächst als möglicher Komplize festgenommen und seine Wohnung durchsucht. Vor ihrer Festnahme hatte die Ehefrau noch dem Radiosender Europe 1 ein Interview gegeben und sich fassungslos über die Vorwürfe gegen ihren Mann gezeigt. "Mein Herz bleibt stehen", sagte sie auf Europe 1. "Wir sind normale Muslime, wir machen den Ramadan. Wir haben drei Kinder, ein normales Familienleben." Sie wüsste nicht, warum ihr Mann ein Attentat hätte verüben sollen.

Bei dem Attentat wurde Polizeikreisen zufolge ein Mensch getötet und mindestens zwei weitere verletzt. Ein Auto sei in eine Gasfabrik gerast und hätte mehrere Behälter zur Explosion gebracht. Auf dem Gelände seien der Kopf einer Leiche und ein Transparent mit islamistischen Parolen gefunden worden. Das weist auf den IS hin, der mehrfach in Syrien Gefangene enthauptet hat.

Der mutmaßliche Attentäter hat vor dem Anschlag womöglich seinen Arbeitgeber enthauptet. Der am Anschlagsort gefundene Leichnam sei der des Chefs eines Unternehmens aus der Region, in dem der Verdächtige angestellt war, wie Ermittler am Freitag sagten. Das Transportunternehmen des Mannes hatte eine Zugangsgenehmigung zu der nahe Lyon gelegenen Gasfabrik.

Aufnahmen der Überwachungskameras zeigen laut Ermittlern, wie der später festgenommene Angreifer den Kopf am Zaun anbringt. Anschließend rammt der 35-Jährige mit seinem Fahrzeug auf dem Gelände abgestellte Gasflaschen und löst so eine Explosion aus. Er rennt dann auf ein Gebäude zu und hantiert mit weiteren Gasflaschen - offenbar, um eine weitere Explosion herbeizuführen. Herbeigeeilte Feuerwehrleute können den Mann, der sie mit "Allahu Akbar"- Rufen empfängt, aber überwältigen und festhalten, bis die Polizei kommt.

Zurückgezogenes Leben

Vorstrafen hatte Yassin Salhi keine, mit seiner Familie führte er ein zurückgezogenes Leben, seinen Nachbarn fiel er nicht sonderlich auf. Den Sicherheitsbehörden war er jedoch schon früher aufgefallen, doch offenbar wurde seine Gefährlichkeit unterschätzt. Bereits 2005 und 2006 wurden die französischen Geheimdienste auf den Mann aufmerksam, dessen Vater algerischer und dessen Mutter marokkanischer Abstammung war. Er hatte Kontakt zu einer Gruppe radikaler Islamisten, als Eiferer fiel er aber nicht auf, wie ein Ermittler sagte. 2006 wurde er auf eine Liste verdächtiger Personen gesetzt, zwei Jahre später aber wieder aus dem Register gestrichen.

2013 dann wurden die Sicherheitsbehörden wieder auf den Mann aufmerksam, wieder gab er sich mit mutmaßlichen Islamisten ab. Damals trug er ein langes Männergewand und einen Bart, wie ihn Salafisten tragen. Innenminister Bernard Cazeneuve sagte am Freitag, Salhi habe Verbindungen zur "salafistischen Bewegung" gehabt. Mit verbotenen Aktivitäten wurde er aber nie in Verbindung gebracht, vorbestraft war er nicht.

Im ostfranzösischen Pontarlier, wo Salhi vor 35 Jahren auf die Welt kam, wurde mit Ungläubigkeit auf die Nachrichten von der Tat reagiert. "Er war ein ruhiger Typ", erinnerte sich der Vorsitzende der Moschee der nahe Besançon gelegenen Stadt, Nacer Benyahia. "Es war eine Freude, ihn in der Moschee zu haben, er war angenehm." Benyahia zufolge verlor Salhi bereits als Jugendlicher seinen Vater, mit seiner Mutter zog er später aus Pontarlier weg. "Er war einsam, er war wahrscheinlich das perfekte Ziel für die Radikalen, die ihre Beute aussuchen", sagte der muslimische Geistliche.

Mit seiner Frau und seinen drei Kindern zog Salhi später nach Besançon. 2014 schließlich siedelte die Familie nach Saint-Priest über, einen Vorort der Großstadt Lyon. Sie bezog dort eine Wohnung im ersten Stock eines Sozialbaus.

Nachbarn sprachen von einer "diskreten" Familie, die ein ruhiges Leben führte. "Ihre Kinder spielen mit meinen, sie sind absolut normal und liebevoll", sagte eine Frau. "Er sprach mit niemandem, wir sagten uns nur 'Guten Tag' und 'Guten Abend'", berichtete ein anderer Nachbar. Salhis Kleidung sei nicht auffällig gewesen, er habe nur einen "kurzen Bart" getragen. Ein junger Mann sagte, in der Moschee von Saint-Priest habe er Salhi nie gesehen.

Vor den Ermittlern steht nun eine gewaltige Arbeit, sie müssen die Radikalisierung des Mannes nachvollziehen, mögliche Komplizen und Hintermänner suchen. Und entschlüsseln, wie aus einem ruhigen Familienvater offenbar ein kaltblütiger Attentäter wurde.

Nach dem Anschlag auf die Gasfabrik rief die französische Regierung für die gesamte Region die höchste Terrorwarnstufe aus. Der Anti-Terror-Plan Vigipirate werde drei Tage lang in der Region Rhône-Alpes auf die höchste Alarmstufe angehoben, sagte Frankreichs Präsident François Hollande am Freitag nach einem Verteidigungskabinett in Paris. Die höchste Stufe wurde bereits im Jänner im Großraum Paris und später auch für das südfranzösische Département Alpes-Maritimes ausgerufen. Sie gilt, wenn es entweder Hinweise auf einen bevorstehenden Anschlag gibt oder ein Attentat verübt wurde.

EU-Staaten verurteilten die Bluttat. Die deutsche Bundeskanzlerin Angela Merkel versicherte Frankreich nach dem islamistischen Terroranschlag ihres Beistands. "Deutschland steht auch im Kampf gegen den Terrorismus, der die Werte und das friedliche Zusammenleben zwischen den Nationen und in unseren Gesellschaften auf brutale und perfide Weise herausfordert, fest an der Seite Frankreichs", schrieb sie am Freitag in einem Kondolenztelegramm an den französischen Präsidenten. Sie sei tief erschüttert.

Außenminister Sebastian Kurz (ÖVP) sagte laut einer Aussendung: "Demokratische Gesellschaften wie unsere dürfen sich dadurch nicht einschüchtern lassen. Wir müssen weiterhin unsere Grundwerte mit Nachdruck verteidigen."

Frankreich war erst im Jänner von einer islamistischen Anschlagserie im Großraum Paris erschüttert worden. Bei Attacken auf die Satirezeitung "Charlie Hebdo", auf eine Polizistin und auf einen jüdischen Supermarkt waren 17 Menschen getötet worden. Im Département Alpes-Maritimes hatte im Februar in Nizza ein Mann mit einem Messer drei Soldaten attackiert, die dort im Rahmen des französischen Anti-Terror-Plans vor einer jüdischen Einrichtung Wache hatten. Ein Soldat wurde an der Wange verletzt, ein weiterer am Arm.