In Israel haben die mit Spannung erwarteten vorgezogenen Parlamentswahlen begonnen. Seit den Morgenstunden sind die Wahllokale geöffnet. Sie werden erst gegen 21 Uhr schließen. 

Regierungschef Benjamin Netanyahu und Oppositionsführer Isaac (Yitzhak) Herzog haben am Dienstag in Jerusalem und Tel Aviv ihre Stimme abgegeben. Ein knappes Rennen wurde erwartet. Letzte Umfragen sahen Herzogs Mitte-Links-Bündnis mit der früheren Außenministerin Tzipi Livni und ihrer Hatnua-Partei leicht voran.

Die Wahlbeteiligung lag bis zu Mittag bei 26,5 Prozent, etwa wie bei der letzten Wahl im Jahre 2013 zur gleichen Zeit. Rund 5,9 Millionen Wahlberechtigte waren aufgerufen, 120 Abgeordnete der Knesset zu wählen. Die Parlamentsneuwahl war notwendig geworden, nachdem Netanyahus Mitte-Rechts-Koalition Ende vergangenen Jahres nach weniger als zwei Jahren im Amt auseinandergebrochen war.

In einem dramatischen Appell rief Netanyahu rechtsorientierte Wähler zur Rettung seiner Machtbasis auf. "Die Herrschaft der Likud-Partei ist in Gefahr", schrieb Netanyahu am Tag der Wahl auf seiner Facebook-Seite. "Arabische Wähler gehen in Massen in die Wahllokale, linksorientierte Organisationen bringen sie in Bussen dorthin." Erst am Vortag hatte der 65-jährige Ministerpräsident eine Kehrtwende in seiner Palästinenser-Politik vollzogen und eine Zweistaaten-Lösung ausgeschlossen. Israels Mitte-Links-Opposition kritisierte Warnungen Netanyahus vor "Massen arabischer Wähler" am Wahltag scharf. "Kein führender westlicher Politiker würde es wagen, solche rassistischen Kommentare abzugeben", schrieb Shelly Jachmovich vom Zionistischen Lager am Dienstag auf Facebook.

Oppositionsführer Herzog gab in Tel Aviv seine Stimme ab. Dabei warb er noch einmal für sein Zionistisches Lager. "Wer Bibis Weg zu Verzweiflung und Enttäuschung folgen will, kann für ihn stimmen, doch wer Hoffnung, Wandel und eine wirklich bessere Zukunft für Israel möchte, sollte die Zionistische Union wählen", sagte Herzog bei der Stimmabgabe in Tel Aviv. Das Oppositionsbündnis ist ein Zusammenschluss der sozialdemokratischen Arbeitspartei von Herzog und der in der politischen Mitte angesiedelten Partei Hatnua (Die Bewegung) von Tzipi Livni.

Falls die israelischen Wähler ihren konservativen Ministerpräsidenten Benjamin ("Bibi") Netanyahu heute durch sein exaktes Gegenbild ersetzen wollen, haben sie leichtes Spiel: Der einzige aussichtsreiche Konkurrent Yitzchak (Isaac) Herzog scheint dann genau zu passen.

Zurückhaltend und diplomatisch auftretend sowie Abkömmling einer der illustresten politischen Dynastien des Landes ist der Chef der gemäßigt linken Arbeitspartei das charakterliche Gegenteil Netanyahus mit seinem bombastischen Stil.

Der Anti-Bibi schlechthin sieht seine Stunde gekommen, die Ära Netanyahus, der mit einer Unterbrechung neun Jahre an der Regierungsspitze stand, zu beenden. Dann müsste der 54-jährige Rechtsanwalt und Vater dreier Kinder das Haus seiner eigenen Kindheit in Tel Aviv verlassen, in dem er mit seiner Frau bis heute lebt. Dabei hatten die Leitartikler der israelischen Medien geätzt, der "blasse Aktenfresser" werde niemals in die Premierministerresidenz in Jerusalem einziehen, als er im Herbst 2013 zum Oppositionschef aufrückte.

Ausgelacht

"Als ich für den Vorsitz der Arbeitspartei kandidierte, schrieben sie, ich hätte kein Charisma und sei chancenlos", erinnerte Herzog kürzlich im Gespräch mit der linksliberalen Tageszeitung "Haaretz" und fuhr fort: "Und als ich vor einem Jahr sagte, ich sei die Regierungsalternative zu Netanyahu, wurde ich ausgelacht."

Alle Wahlumfragen räumen ihm diesmal realistische Chancen ein, als Spitzenkandidat der stärksten Fraktion mit dem Versuch einer Koalitionsbildung beauftragt zu werden. "So wie ich in der Vergangenheit alle überrascht habe, wird mir das auch diesmal gelingen. Meine Zeit ist gekommen", versicherte Herzog.

Als erfolgreicher Schachzug erwies sich die Bildung des Listenbündnisses "Zionistische Union" mit der liberalen Hatnua-Partei von Tzipi Livni. An sie will Herzog im Erfolgsfall den Chefposten im Kabinett nach zwei Jahren abgeben. Auch dies mag als Beleg für sein kontrolliertes Ego gelten.

Doch es bleibt ein ehrgeiziges Ziel, erstmals seit Ehud Barak 1999 die Arbeitspartei wieder dorthin zu führen, wo sie jahrzehntelang ihren Stammplatz hatte: an die Spitze der Regierung. Denn ein relativer Wahlerfolg könnte sich als Pyrrhussieg erweisen, wenn es Herzog als Führer der stärksten Fraktion nicht gelingt, eine Koalition zu bilden und danach Netanyahu doch zum Zuge kommt.

Vor 16 Monaten wurde Herzog in einer Urwahl überraschend deutlich an die Spitze seiner Partei gewählt. Seit 2003 ist er Parlamentsabgeordneter und war zuvor Kabinettssekretär seines politischen Ziehvaters Barak. In der Knesset profilierte sich der Jurist als Sozialpolitiker. Er initiierte erfolgreiche Gesetzesvorlagen zur Besserstellung von Behinderten, von Opfern sexueller Gewalt und von Holocaustüberlebenden.

In der Großen Koalition ab 2005 wurde Herzog Minister für Wohnungsbau; später leitete er die Ressorts Tourismus, dann Soziales und bis 2011 das Ministerium für Auslandsjudentum und Antisemitismusbekämpfung. Außenpolitisch hat er sich immer für territoriale Zugeständnisse an die Palästinenser ausgesprochen und ist für die Zweistaatenlösung als Grundlage eines Friedensabkommens bekannt.

Gelingt es "Bougie" - ein Kosename seiner Mutter - tatsächlich, das Amt des Ministerpräsidenten zu übernehmen, würde das in die Familienchronik passen. Die Herzogs werden oft als die israelischen Kennedys beschrieben, auch weil beide Clans ursprünglich aus Irland stammen.

Großvater Yitzchak, war nach der Staatsgründung 1948 der erste Großrabbiner der aus Europa stammenden aschkenasischen Juden. Vater Chaim Herzog wurde israelischer General, UNO-Botschafter und dann Staatschef von 1983 bis 1993. Und Onkel Abba Eban war Außenminister zu Zeiten des Sechstagekriegs 1967. Auch politischer Adel verpflichtet.

Hazel Ward und Clemens Wortmann, AFP