Ginge es nach den Ärzten, die Christina Holmes als Baby untersuchten, dann wäre sie seit 15 Jahren tot. Eine Lebenserwartung von drei Jahren wurde Christinas Eltern für ihre Tochter prophezeit. Christina lacht, wenn sie diese Geschichte heute, mit 18 Jahren, hört. „Sie ist eben ein Wunderwuzzi“, sagt Christinas Mama stolz.
Dabei kam Christina als gesundes Kind zur Welt, sie begann sich aufzusetzen, lernte krabbeln. Doch plötzlich schien sich das blonde Mädchen rückwärts zu entwickeln, verlor diese Fähigkeiten wieder. „Sie wurde weich wie ein Pudding“, erinnert sich die Mama. Die Eltern mussten bis nach Deutschland fahren, um eine Diagnose zu bekommen. Diese lautete spinale Muskelatrophie, kurz SMA. Eine genetische Erkrankung des Nervensystems, eine Erschütterung der Welt von Familie Holmes.
„Die ersten fünf Jahre waren ein Albtraum“, erzählen die Eltern in ihrem lichtdurchfluteten Haus im Kärntner St. Margarethen ob Töllerberg. Kaum jemand kannte die Krankheit, niemand konnte den Eltern ihre Fragen beantworten: Wie wird es weitergehen? Was können wir tun? So suchten sie die Antworten selbst, aber fanden nicht viel. „Die Forschung stand am Anfang.“
Dreieinhalb Menschen
Jene Nerven, die Christinas Muskeln steuern sollen, sterben ab. Gehen lernte sie nie, seit einigen Jahren sitzt sie im Elektrorollstuhl, den sie mit der Hand steuern kann. In der Nacht braucht sie zusätzlichen Sauerstoff, denn die Lungenfunktion lässt nach. Das Einzige, was momentan dagegen getan werden kann, ist, Christina so gut wie möglich zu unterstützen – mit technischen Hilfsmitteln und Physiotherapie.
Doch die Krankheit schreitet immer weiter fort. „Ich brauche dreieinhalb Menschen zum Leben“, sagt Christina und meint, dass sie rund um die Uhr Unterstützung braucht – etwa wenn sie nachts umgedreht werden muss oder ihr Kopf in die falsche Position fällt. Persönliche Assistenten helfen beim Anziehen, beim Kochen und bald beim Schreiben der Matura.
"Gutes Leben"
In Christinas schwachem Körper wohnt ein umso aktiverer Geist: Sie ist Vorzugsschülerin, hat eine Rolli-Tanzgruppe gegründet, einen Werbespot für den guten Zweck gedreht und berät die Landesregierung in Sachen Barrierefreiheit. „Ich habe ein gutes Leben“, sagt Christina.
Nur eine Sache will Christina nicht akzeptieren: „Es gibt ein Medikament, das uns helfen könnte“, sagt sie, „doch es kommt nicht auf den Markt.“
Olesoxime heißt der Wirkstoff, der 2014 von einem Biotech-Unternehmen präsentiert wurde, das dann von der Pharmafirma Roche aufgekauft wurde. Der Wirkstoff wurde bereits an Patienten getestet und konnte das Fortschreiten der Erkrankung aufhalten. „Doch nun soll das Medikament erst 2020 auf den Markt kommen“, sagt Christina.
Auch Patientenorganisationen üben Druck aus, den Wirkstoff für Patienten zugänglich zu machen. Die deutsche Patientenorganisation berichtet der Kleinen Zeitung, dass man verstehe, dass es Studien zur Überprüfung der Wirksamkeit brauche. Aber: „Es gibt die Möglichkeit, für so wichtige Medikamente eine vorübergehende Zulassung zu erwirken. Warum das nicht getan wird, verstehen wir nicht.“
"Verlorenes Medikament"
Einen Verbündeten hat Christina in ihrem Arzt, dem Neurologen Wolfgang Kubik, gefunden. „Hier geht es um Lebenszeit“, sagt dieser. „Kommt der Wirkstoff zu spät auf den Markt, wird es für viele Patienten ein verlorenes Medikament sein.“ Denn Nervenzellen, die einmal abgestorben sind, sind verloren.
Der Zeitpunkt für eine mögliche Zulassung wurde auf das Jahr 2020 datiert. Warum so spät? „Die Gesundheitsbehörden in Europa und den USA haben ergänzende Daten eingefordert, um das Nutzen-Risiko-Profil des Medikaments zu belegen“, erklärt Roche. Dafür wird nun eine große Studie der Phase III begonnen. Und das braucht: Zeit.
Auch für die vorläufige Zulassung fehlen die Studiendaten: "Die Wirksamkeit von Olesoxime konnte nicht eindeutig belegt werden, da der angestrebte Endpunkt der Phase-II-Studie nicht erreicht wurde", erklärt Johannes Pleiner-Duxneuner, Medical Director bei Roche Austria. Auch von der europäischen Arzneimittelbehörde seien ergänzende Daten eingefordert worden.
Die Firma versichert aber, dass alles dafür getan werde, SMA-Betroffenen zu helfen. Das aufwendige Studienprogramm werde nur deshalb umgesetzt, weil man an die Wirksamkeit des Medikaments glaubt. Durch die Studie solle sichergestellt werden, dass Patienten keinem Risiko ausgesetzt werden. „Wir halten bestehende Vorschriften ein, klinische Studien sind unerlässlich“, erklärt Roche. Außerdem bemühe man sich, das Studienprogramm nach Österreich zu bringen – das wäre eine Chance, das Medikament früher zu bekommen.
Die Uhr tickt
Denn für Patienten wie Christina tickt die Uhr – und sie hat noch viel vor. Hat sie die Matura geschafft, möchte sie studieren. Medizin hätte es werden sollen, doch dafür fehlt Christina die körperliche Kraft. Jetzt will sie Molekularbiologie studieren. Christina sagt: „Das schaffe ich.“