Der Berliner Historiker Heinrich August Winkler, am Vorabend mit dem Leipziger Buchpreis zur Europäischen Verständigung ausgezeichnet, wartete mit sehr kritischen Worten auf.

"Wenn die demokratischen Parteien das nicht schaffen, versagen sie", sagte der 77-Jährige. Der syrische Philosoph Sadik al-Azm, einer der wichtigsten progressiven Denker der arabischen Welt, mahnte mehr Verständnis für die Hintergründe des Bürgerkriegs in seinem Heimatland an. Hauptakteur sei der Staat, der sich unter dem diktatorischen Regime von Präsident Assad gegen die eigene Zivilgesellschaft wende. Sadik al-Azm ("Islam und säkularer Humanismus") kann selbst nicht mehr in Syrien leben, 2012 erhielt er politisches Asyl in Deutschland.

Er eröffnete den diesjährigen Themenschwerpunkt der Messe. Unter dem Motto "Europa 21 - Denk-Raum für die Gesellschaft von morgen" gehen Autoren, Wissenschafter und Experten der Frage nach, wie angesichts der zunehmenden Zuwanderung das gesellschaftliche Zusammenleben künftig aussehen kann.

Hilfsbereitschaft

Karim El-Gawhary, Leiter des ORF-Studios in Kairo, verwies mit Blick auf die Flüchtlingsdebatten in Europa auf die Hilfsbereitschaft in den arabischen Nachbarstaaten. Allein im Libanon sei inzwischen jeder vierte Einwohner ein syrischer Flüchtling. "Wenn ich das mal auf Ihr schönes Deutschland umrechnen darf, wären das 20 Millionen Flüchtlinge", so der Journalist.

Der Westen trägt seinen Worten zufolge große Mitverantwortung für die dramatische Lage in den arabischen Kriegs- und Krisenregionen. Er habe aus strategischen und wirtschaftlichen Gründen jahrzehntelang diktatorische Regime in der Region unterstützt. "Wir sind nicht unschuldig, wir sind immer auch Teil des Problems", sagte der Nahostkorrespondent. Sein neues Buch "Auf der Flucht" schildert hart und berührend aktuelle Flüchtlingsschicksale.

Der Islamwissenschafter Michael Lüders warnte in der Gesprächsrunde, dass die aggressiven fremdenfeindlichen Aktionen in Deutschland eine Gegenwehr der Flüchtlinge auslösen könnten - bis hin zu einem "Zerfall der bürgerlichen Ordnung". "Und die Politik ist völlig überfordert."

Das Thema Flucht bewegt auch den Kinderbuchmarkt: Mehrere der 30 im "Leipziger Lesekompass" ausgezeichneten Titel befassen sich mit diesem hochaktuellen Thema. "Wir wollen Lust auf Lesen machen - und zeigen, welche neuen Bücher es gibt, auch zu den Themen Integration, Inklusion, Migration und Miteinander leben", sagte der Hauptgeschäftsführer der Stiftung Lesen, Jörg F. Maas.

Schon zum Start der viertägigen Büchermarathons waren Tausende Literaturfreunde auf das Messegelände geströmt. Der Frühjahrstreff der Buchbranche gilt als wichtige Plattform für Autoren, Verlage, Buchhändler und Literaturagenten. Mehr als 2.200 Aussteller aus 42 Ländern stellen ihr neues Programm vor. Anders als die Frankfurter Buchmesse ist der Branchentreff in Leipzig an allen Tagen auch für das allgemeine Publikum zugänglich. Zusammen mit dem begleitenden Lesefestival "Leipzig liest" rechnen die Veranstalter bis zum Sonntag mit rund 250.000 Besuchern.