Könnten Sie leben mit einem Kopftuchverbot in Kindergärten und Volksschulen?

DUDU KÜCÜKGÖL: Wenn es wirklich um das Wohl der Kinder geht, und um „schädliche Praktiken“, müssen wir über alles reden können. Aber ich mag es nicht, wenn nur die muslimische Gruppe Ziel von Politiken ist. Reden wir darüber , was für Kinder schädlich ist. Auch Haare färben ist gesundheitlich schädlich, Hotpants sexualisieren Kinder, Schuhe mit Absätzen sind ungesund. Ich glaube nicht, dass es wirklich um das Kindeswohl geht, wenn viele andere Themen ausgelassen werden und man sich nur auf das Kopftuch einschießt.

Sie selbst tragen Kopftuch. Aber Kopftücher für Kinder befürworten Sie auch nicht, oder?

KÜCÜKGÖL: In Bezug auf das Kopftuch bin ich wie 99,9 Prozent aller Muslime der Ansicht, dass ein Kopftuch keine Frage für ein Kind ist und sich eine junge Frau aber mit 14, 15 oder 16 dafür entscheiden kann. Ich persönlich bin sogar dafür, dass das erst später passiert. Mein Problem ist, dass das Kopftuch als „schädliches Kleidungsstück“ dargestellt wird, dass man die Kinder vor den Eltern „schützen“ will. Reden wir über Erziehungsmethoden. Aber wenn es nur um das Kopftuch geht, ist das eine Scheindebatte. Wenn jemandem das Wohl der Kinder  wirklich so wichtig ist, dann arbeiten wir doch gemeinsam daran, den grassierenden Rassismus an den Schulen zu bekämpfen. Darunter leiden die Kinder!

Das Problem ist doch, dass das Kopftuch eine Art Fetisch ist, nicht nur für die, die daran Anstoß nehmen, sondern auch für Islamisten, die ihren Anhängern damit von klein auf eine Art Stempel aufdrücken.

KÜCÜKGÖL: Was ist ein Stempel? Das Kopftuch alleine ist ja nicht das Problem. Hier wird das Kleidungsstück zum Problem gemacht, das ist eine Art „victim blaming“, eine Opfer-Täter-Umkehr. Man will das Kind vor Diskriminierung schützen, indem man es vor dem Kopftuch schützt - anstatt sie vor den diskriminierenden Menschen zu schützen. Das funktioniert nicht.

Fühlen Sie sich persönlich gut, wenn Sie ein siebenjähriges Kind mit Kopftuch sehen?

KÜCÜKGÖL: Lassen Sie mich laut denken: Für ein Mädchen, dessen Mutter ein Kopftuch trägt, ist das Kopftuch ein normales Kleidungsstück. So wie andere Mädchen auch will sie ihre Mutter nachahmen. Heute setzt es ein Kopftuch, auf, dann wieder nicht, das ist völlig normal. Aber ich habe natürlich ein Problem mit Eltern, die ihre Kinder dazu zwingen, ein Kopftuch zu tragen. In jedem Alter übrigens, auch bei großen Kindern und erwachsenen Frauen  habe ich damit ein Problem.

Mein Problem ist aber auch: Ich weiß, dass die Debatte nur ein Anfang ist. Es wird nicht aufhören mit den Kindergärten und Volksschulen. Wir haben das Kopftuchverbot ja auch schon für Richterinnen, Polizistinnen, Staatsanwältinnen, Soldatinnen. Scheibchenweise macht man das Kopftuch zum Thema, politisiert es. Das ist die Entwicklung, die mir Sorgen macht. Es geht in Richtung Stigmatisierung, Ausgrenzung, auch bei Erwachsenen.

Was schlagen Sie vor, als Maßnahme in der Schule, wenn eine Lehrerin sieht, dass ein Mädchen von den Eltern gezwungen wird, das Kopftuch zu tragen?

KÜCÜKGÖL: Religionslehrerinnen können gut intervenieren, oder Sozialarbeiterinnen. Warum kann das die Schulsozialarbeit nicht lösen?  Wenn aber im aktuellen Kontext einer ÖVP-FPÖ-Regierung von Kopftuchverboten die Rede ist, weiß ich, dass es  nicht  um das Kindswohl geht, sondern um einen Rechtsruck innerhalb unserer Gesellschaft.

Es gibt ja auch die liberalen, die nichtreligiösen Eltern, die ihre Kinder nicht indoktrinieren wollen, bzw. will die Mehrheit der Eltern keine Indoktrination. Was heißt denn so ein Verbot für  unsere Gesellschaft: Laut Menschenrechtskonvention haben alle Eltern das Recht, ihre Kinder so zu erziehen, wie sie es für richtig halten, mit Einschränkungen natürlich, und um die geht es da. Was kommt morgen? Ein Weihnachtsverbot? Ein Osterverbot? Das Faschingsverkleidungsverbot? Die Leute verstehen nicht, dass es da um viel mehr  geht, wenn Menschenrechte beschnitten werden - da geht es am Ende um uns alle.

Viele Menschen haben keine Nähe zu Menschen muslimischen Glaubens. Sie können sich rasch anfreunden mit einem Verbot, das sie nicht betrifft, aber sie denken nicht über die Konsequenzen nach.

Das Kopftuch war schon im Vorjahr ein Thema, in Zusammenhang mit Burkaverbot und Kopftuchverbot für Polizistinnen, Richterinnen und Staatsanwältinnen...

KÜCÜKGÖL:  Zum oder dritten Mal übernimmt die ÖVP hier mit dem Kopftuchthema die Themenführerschaft in frauenpolitischem Kontext. Die ÖVP ist damit zur Stichwortgeberin in der Frauenpolitik geworden. Das Kopftuch war für unsere Politikerinnen im Jahr 2017 das  Thema Nummer 1. Das ergab die Frauen-Politik-Medien-Jahresstudie 2017“ von Maria Pernegger, die gerade erschienen ist. Das Kopftuch wurde doppelt so oft angesprochen wie die Frauenquoten in der Politik, dreimal so oft wie das Thema sexuelle Belästigung, viermal so oft wie das Problem Sexismus. Die Gleichbehandlung im Job, die Situation von Alleinerzieherinnen oder das Thema Gewalt gegen Frauen kam noch viel weniger vor.  Die ÖVP hat es geschafft, zur  frauenpolitischen Sitchwortgeberin im Land zu werden, und alle machen mit: die Medien, die SPÖ, Feministinnen wie Sibylle Hamann, ORF-Anchorman Armin Wolf -  alles Leute, denen man keine Nähe zu Strache vorwerfen kann. Es schockiert mich, wie unreflektiert  der gesamte politische Kontext dieser Debatten ausgeblendet wird. Wenn man sich um muslimische Kinder sorgt, dann soll man sich mit muslimischen Familien hinsetzen und gemeinsam überlegen, was zu tun ist anstatt mit Verboten zu kommen!

Reden Sie mit muslimischen Familien, wenn Sie merken, dass deren Töchter gezwungen werden, Kopftuch zu tragen?

KÜCÜKGÖL: Ja. Ich rede mit solchen Eltern, wenn ich  mitkriege, dass sie Druck ausüben. Ich sage ihnen, dass das nicht richtig ist, dass sie ihre Kinder damit abstoßen von der Religion, obwohl sie doch eigentlich wollen, dass sie religiös werden.  Ich bin überzeugt davon, dass es nicht richtig ist, Menschen  in religiösen Belangen zu etwas zu zwingen. Das ist ja auch ein islamischer Grundsatz: Eine religiöse Handlung wird von Gott nur angenommen, wenn es vom Menschen selber kommt.

Wie kann man das institutionalisieren, welche allgemeine Maßnahme könnte man daraus ableiten?

KÜCÜKGÖL: Wenn wir das Kindswohl und das Wohl der Familie im Auge haben, sollten wir versuchen, gemeinsam mit den  Familien Lösungen auszuarbeiten.  Die Schulsozialarbeit wäre dafür zuständig. Es soll sich auch nicht jeder Lehrer  bemüßigt fühlen, sich zur religiösen Praxis von jedem Kind zu äußern - darunter leiden die Kinder auch. Manchmal wird es schon der Radikalisierungsstelle gemeldet, wenn  ein Kind nur zum Beten anfängt – die Leute sind schon übertrieben paranoid! Jetzt auch noch ein Verbot? Jedes Mädchen wird eh schon jetzt bedrängt, wenn es ein Kopftuch aufhat - das wird sich verschärfen. Die Debatte geht völlig an der Realität vorbei.

Gibt es so viele?

KÜCÜKGÖL: Es gibt vor allem auch junge muslimische Frauen, die ein Kopftuch tragen, mit 12 oder  13, gegen den Willen ihrer Eltern. Ich persönlich kenne weitaus mehr Eltern, die aus Sorge um ihre Kinder ihren Töchtern vom Kopftuch abraten. Die  Kinder leiden unter der Islamfeindlichkeit, darum kümmert sich keiner. 

Offenbar sind kopfttuchtragende Kinder besonders in Wien wahrnehmbar. Für Sie auch?

KÜCÜKGÖL: Es ist nur eine Handvoll Kinder an den Schulen, die ich sehe, und ich wohne im zehnten Bezirk, wo viele Muslime wohnen. Die Mehrheit der jungen Mädchen trägt kein Kopftuch, höchstens auf dem Weg in die Moschee.  Wie gesagt: Es ist Pseudopolitik, eine Scheindebatte. Schützen wir unsere Kinder lieber vor rassistischen Übergriffen!

Was wäre notwendig für eine gelingende Integration, aus Ihrer Sicht?

KÜCÜKGÖL: Ich glaube, dass es viel wichtiger ist, auf soziale Faktoren zu setzen, nicht auf religiöse Gruppen einzugehen, sondern auf Kinder, deren Eltern nicht die Mittel und Möglichkeiten haben, das Kind zu fördern. Die OECD bescheinigt unserem Schulsystem seit Jahrzehnten, dass nur Kinder gefördert werden, deren Eltern schon gebildet sind. Wir sollten die Debatte  über Bildungsgerechtigkeit führen oder auch über andere Probleme wie  Mobbing in der Schule sprechen!

Laut FPÖ-Chef Heinz-Christian  Strache geht es hier nicht um eine Religionsdebatte, sondern  um Integration, darum ,dem politischen Islam etwas entgegenzusetzen. Was würden Sie der Entwicklung von „Parallelgesellschaften“ entgegensetzen?

KÜCÜKGÖL: In Wien oder Graz gibt es Bezirke, wo mehr Migranten wohnen, und wo dann auch die Schulen entsprechend zusammengesetzt sind. Wir brauchen mehr Durchmischung in den Schulen, wir müssen in der Wohnpolitik ansetzen, und wir müssen eine andere Bewertung vornehmen. Viele Kinder mit Migrationshintergrund  werden als defizitär eingestuft, weil sie eine andere Muttersprache haben, dabei haben sie doch oft einfach eine Sprache zusätzlich.  Bei der Förderung der Kinder müssen wir schon in den Kindergärten  ansetzen.

Was halten Sie von den geplanten Deutschförderklassen an den Schulen?

KÜCÜKGÖL: Ich selbst kam im Alter von sieben Jahren nach Österreich, mit Null Deutschkenntnissen. Mir hat am meisten geholfen,   dass mit mir alle Deutsch gesprochen haben, obwohl ich es noch nicht konnte.

Das funktioniert natürlich nur, wenn es rundherum Kinder gibt, die Deutsch sprechen.

KÜCÜKGÖL: Ja, daher  müsste man ja eben bei der Wohnpolitik ansetzen. Wo da  welche Parallelgesellschaften sind, wird  an der Höhe der Mieten sichtbar. Das ist ein soziales Thema. Und eine Einkommensfrage: Es wäre auch gut, wenn unsere Politiker nicht ihre Kinder alle in Privatschulen schickten und damit die deutschsprachigen Kinder den normalen Schulen „wegnehmen“.  Aber unsere Kinder sollen sich „integrieren“?

Wo sollte die Regierung, die Politik kurzfristig ansetzen, wenn sie etwas tun will für Integration?

KÜCÜKGÖL: In unseren Schulen fehlt tatsächlich die Diversität, aber nicht in den Klassenzimmern sondern in den Konferenzräumen. Es gibt Studien dazu, dass mehr Lehrerinnen und Lehrer mit Migrationshintergrund bedeuten, dass es weniger kulturelle und ethnische Konflikte an den Schulen gibt, weil diese Lehrer aufgrund ihrer eigenen Erfahrungen diesbezüglich mehr Lösungskompetenz haben. Davon profitieren  alle Kinder - nicht nur muslimische oder jene mit Migrationshintergrund.

Jetzt werden doch ohnehin so viele Lehrer gebraucht…

KÜCÜKGÖL: Ja, und wir hätten so viel Nutzen!  Kinder mit Migrationshintergrund hätten Vorbilder, an denen sie sehen: „Auch ich kann etwas erreichen in dieser Gesellschaft. Ich kenne muslimischen Lehrerinnen, mit türkischem oder arabischem Background, und ich weiß: Sie haben ganz ausgezeichnete   Beziehungen zu all ihren Schülern, die sich einfach freuen, dass es sie gibt.