Sie hatte ihren Koffer schon gepackt. Das ganze Leben in einem Koffer. Sie hatte sich zuvor mehrere Altenheime angeschaut und sich für eines schon entschieden. „Das war gar nicht schlecht“, erzählt Margaretha Hofireck. „Aber nach einem Monat hat es mir gereicht. Ein kleines Zimmer, ein Bett, ein Kasten, ein Nachttisch – das kann’s doch nicht sein, was einem vom Leben bleibt“, sagt die 94-Jährige in ihrer Wohnung in Wien-Döbling und zupft an ihrem Halstuch.

Sie wandte sich an Organisationen, die eine 24-Stunden-Pflege vermitteln, landete bei „gutbetreut.at“ und wurde fündig. Das war 2014.

Seit vier Jahren wohnt nun zwei Wochen im Monat Vlasta Marisova bei ihr, die anderen zwei Wochen Eva. Als wir Margaretha Hofireck besuchen, öffnet uns Vlasta die Tür und winkt uns fröhlich herein. Auf dem Tisch im Wohnzimmer steht der dampfende Kaffee. Frau Grete, wie Margaretha Hofireck alle nennen, sitzt in einem Fauteuil und heißt uns willkommen. „Ich hab gern Besuch, das bringt Abwechslung“, sagt sie und lächelt.

Vlasta hat Brötchen gerichtet und fordert uns in perfektem Deutsch auf, doch zuzugreifen. „Ich bin seit vier Jahren bei Frau Grete, aber schon seit 13 Jahren als 24-Stunden-Pflegerin in Österreich – genug Zeit, um Deutsch zu lernen“, erklärt die quirlige 57-Jährige.

Vlasta Marisova hat 23 Jahre in einer Tatra-Fabrik in der Slowakei gearbeitet. Dann sperrte die Firma zu, und plötzlich waren sie und ihr Mann, der auch dort angestellt war, arbeitslos.

Vlasta musste sich neu orientieren, machte eine Pflegeausbildung, arbeitete in Bratislava in einem Altenheim und hörte dann, wie groß der Bedarf an 24-Stunden-Pflegerinnen in Österreich ist. Sie landete zunächst im niederösterreichischen Mistelbach: „Damals habe ich noch schwarzgearbeitet.“

2008 dann die Gesetzesänderung. Seither arbeiten die 24-Stunden-Pflegerinnen in Österreich selbstständig mit einem Gewerbeschein, sind sozialversichert, müssen aber auch in Österreich Steuern zahlen. Mehr als 30.000 Slowakinnen sind mittlerweile in Österreich mit aktivem Gewerbe und sozialversichert im Pflegedienst tätig. 24-Stunden-Pflege, das heißt: Rund um die Uhr kümmern sich die Pflegerinnen zwei Wochen lang um ihre Patientinnen und Patienten. Zwei Stunden Pause pro Tag stehen den Pflegerinnen zu. Wenn die Chemie stimmt, wie bei Frau Grete und Vlasta, „nimmt man das nicht auf die Minute genau“, sagt die 94-Jährige.

Zauberwort Personenfreizügigkeit

„Ich war ja anfangs kein Fan der EU“, sagt Frau Grete, „aber jetzt sehe ich sehr wohl, wie viele Vorteile sie bringt.“ Zauberwort Personenfreizügigkeit. Sie ist eine der Grundfesten der EU, die definiert, dass EU-Bürger innerhalb der Gemeinschaft ihren Wohnsitz und ihren Arbeitsplatz frei wählen dürfen.

Es war Vizekanzler Heinz-Christian Strache, der zuletzt diesen Pfeiler der EU kritisierte. Er wolle „im Interesse der osteuropäischen Länder dafür Sorge tragen, dass nicht alle Pflegekräfte in Westeuropa arbeiten und in der Slowakei keine mehr zu finden sind“, sagte er.

Allein, ohne die 30.000 Slowakinnen und 30.000 Rumäninnen, die den größten Anteil an 24-Stunden-Pflegerinnen in Österreich stellen, „würde unser Gesundheits- und Pflegesystem“ zusammenbrechen, sagt Margit Hermentin, Gründerin von „gutbetreut.at“. Gerade einmal drei Österreicherinnen würden sich unter ihren mehr als 400 Pflegerinnen – alle aus der Slowakei – finden, die sie vermittelt. Nur wenige Österreicherinnen wollten diesen anstrengenden Job machen. Selbst die von der FPÖ nominierte Außenministerin Karin Kneissl sprach kürzlich bei einem Treffen mit dem slowakischen Staatssekretär Ivan Kor(c)ok, der sich über den Beschluss der indexierten Familienbeihilfe in Österreich entrüstete, den slowakischen Pflegern und Krankenschwestern ihren „Dank“ dafür aus, dass sie das „österreichische Gesundheitswesen durch ihre tatkräftige Mithilfe aufrechterhalten“.

„Ich könnte ohne Vlasta und Eva schon lange nicht mehr zu Hause sein“, erzählt Frau Grete. Auch wenn sie geistig voll da ist: „Die Beine machen nicht mehr mit.“ Sie hat ihr ganzes Leben über gearbeitet, sie war Buchhalterin. Zuerst bei der RAG, der Rohöl-AG, am Schwarzenbergplatz, später in der Quästur an der Universität Wien.

Vor 14 Jahren wurde sie Witwe, ihr Mann war auch Buchhalter. Kinder bekamen die beiden nicht. Komplikationen nach einer übersehenen Blinddarmentzündung führten dazu, dass sie keine Kinder bekommen konnte. Auf den Kommoden stehen Fotos von ihren Nichten und Neffen und deren Kindern. 1968 kaufte Frau Grete mit ihrem Mann die Wohnung in Wien-Döbling: „Um 18.000 Schilling.“ Heute ist sie für Normalverdiener unbezahlbar, allein die Lage.

„Mein Daheim. Alles hier hat eine Geschichte“, sagt sie. Vlasta holt ein Fotoalbum mit Seidenpapier zwischen den Seiten aus einer Lade der 50er-Jahre-Kommode. Die Fotos sind vergilbt, aber die Erinnerung ist frisch. „Da bin ich ein junges Ding“, sagt Frau Grete und tippt auf eine gelbstichige Aufnahme. Ihr Papa war schon 55, als sie auf die Welt kam, ihre Mama 45. Die Eltern hatten eine Bäckerei in Klosterneuburg. Im Zweiten Weltkrieg, nach der Matura, musste Frau Grete zum Arbeitsdienst in den Schwarzwald. Die Gegend sei schön gewesen, aber die Arbeit hart wie das Brot. 1943 durfte sie zurück nach Österreich.

Vlasta sitzt daneben, hört zu und beginnt dann selbst zu erzählen. Sie hat zwei Söhne, die sind „schon draußen“, 31 und 33 Jahre alt. Ihr Mann arbeitet mittlerweile als Taxifahrer, und dann ist da noch Hund Napoleon. Ob es ihr nicht schwerfalle, alle zwei Wochen weg von daheim zu sein? „Natürlich, aber so ist es eben“, sagt Vlasta. 60 Euro netto verdient sie hier am Tag, 2,50 Euro pro Stunde. Nach österreichischem Maßstab ist das nicht viel, für slowakische Verhältnisse aber doch gut. Dazu kommt ein Fahrtgeld von 100 Euro und die Sozialversicherung. Ihr Gehalt erhält sie direkt von Frau Grete, an „gutbetreut.at“ zahlt Vlasta 500 Euro im Jahr Vermittlungsgebühr.

Frau Grete hat „Pflegestufe 4“, das bedeutet, sie bekommt einen staatlichen Zuschuss von 677,60 Euro plus 550 Euro 24-Stunden-Betreuungs-Zuschuss. Im Burgenland bekommen die Pflegebedürftigen für die 24-Stunden-Betreuung noch zusätzliche 600 Euro vom Land.

Vlasta geht in die Küche. Heute gibt es Palatschinken. „Die Gurkenkrümmung hat mich anfangs narrisch gemacht an der EU“, sagt Frau Grete, „man hat gedacht, dass die EU nur aus seltsamen Verordnungen besteht.“ Längst hat sich Margaretha Hofireck mit der EU ausgesöhnt: „Ich wäre aufgeschmissen ohne das alles. Ich habe begriffen, dass es besser ist, wenn Europa zusammenwächst.“

© Katrin Bruder

Lesen Sie morgen: Das
Geschäftsmodell Europa.

Weitere Artikel