Herr Brague, Sie sehen Europa in großer Gefahr. Was bereitet Ihnen Sorgen?
RÉMI BRAGUE: Europa zerstört sich von innen. Es ist zum Opfer seines eigenen Selbsthasses und des Zerrbildes geworden, das seine geistigen Eliten vom Kontinent zeichnen. Diese Leute erzählen uns, dass die europäische Geschichte lediglich eine ununterbrochene Reihe von Verbrechen sei, von den Kreuzzügen über die Inquisition bis zur Kolonisierung. Das führt dazu, dass Europa an sich selbst und seiner Zukunft zweifelt, ja verzweifelt.
Gibt es nicht auch Anlass zu Zuversicht? Die Präsidentenwahlen in Frankreich waren ein europäisches Glaubensbekenntnis.
Je nachdem, an welches Europa man glaubt. Ich verstehe mich nicht als fanatischer, aber doch profilierter Europäer. Doch mir missfällt die Beschlagnahmung Europas durch eine bestimmte, sehr enge Deutung seines Wesens. Die Absicht der Gründerväter der Europäischen Union war moralischer Natur. Adenauer, Schuman und De Gasperi wollten neue Kriege verunmöglichen, indem sie Kohle und Stahl vergemeinschafteten. Doch die europäische Idee wurde pervertiert. Die Institutionen der EU schalten und walten als Hort einer Weltanschauung, die nichts mit den ursprünglichen europäischen Werten zu tun hat. Im Gegenteil. Man muss nur die Augen aufmachen, um deren Selbstauflösung zu beobachten.
Woran machen Sie das fest?
Was bedeutet heute Europa? Für viele Leute beginnt seine Geschichte mit der Aufklärung, die radikal antichristlich und antiklassisch verstanden wird. So gibt es in Brüssel jetzt ein Haus der europäischen Geschichte, dessen unterschwellige Botschaft lautet, Europa fange erst mit der Französischen Revolution an, mit Napoleon und dem Code civil. Nun sind das Marksteine. Aber ohne die Antike, das Mittelalter und die Renaissance ist Europa nicht zu denken.
Was ist Europa für Sie?
Es ist der Ort, an dem sich römisches Recht, christliche Religion und griechische Philosophie auf einmalige Weise zum prägenden Dreigestirn verbunden haben. Das Bemerkenswerte ist, dass Europas Kultur nicht aus sich selbst heraus entstanden ist. Ihre Quellen liegen in Jerusalem und in Athen. Für die Menschen im Mittelalter gehörten weder das Heilige Land noch Griechenland zu Europa. Ich spreche daher von der exzentrischen Identität Europas, einer Identität, die leider mehr und mehr verleugnet wird.
Wie äußert sich das?
In gewollter Selbstvergessenheit. Denken Sie nur daran, wie Latein und Altgriechisch aus den Lehrplänen eliminiert werden. Dieser Wille, der klassischen Vergangenheit gegenüber die Anker zu lichten, ist die letzte Stufe dessen, was ich die Herrschaft des Menschen genannt habe, seine Loslösung von der Natur, der Geschichte und dem Göttlichen. Auch die EU wird Teil dieses gesamtwestlichen Projekts einer völligen Autonomisierung des Menschen. Ihre Eliten meinen, Europa ließe sich am Schopf aus dem Sumpf ziehen, wie es Münchhausen tat.
In Ihrem Manifest beklagen Sie, dass das christliche Ethos durch die Utopie eines universellen Menschenrechtskatalogs ersetzt worden sei. Sind die Menschenrechte nicht Teil dieses Ethos?
Ja und nein. Christlich ist das Menschenbild, die Anthropologie, wonach die Würde des Menschen unantastbar ist. Das Dumme am Gerede über die Menschenrechte ist nur, dass man nicht mehr weiß, was ein Mensch ist. Wir haben Menschenrechte ohne Menschen. Als Christ könnte ich sagen, das hat damit zu tun, dass es keine Ebenbildlichkeit mit Gott mehr gibt. Aber ist ein Menschenbild ohne Schöpfungsidee haltbar? Schon André Malraux hat den Finger auf diesen wunden Punkt gelegt. Im Essay „Die Versuchung des Westens“ von 1926 lässt er einen Chinesen zu einem Europäer sagen: „Ihr habt Gott getötet, nun müsst ihr auch den Menschen töten.“
Ist die Idee von der Gleichheit der Menschen kein Ersatz?
Gleiche Rechte und gleiche Pflichten sind gut. Nur will man daraus ableiten, dass die Menschen tatsächlich gleich sind.
Sind sie das nicht?
Offensichtlich nicht. Es gibt den Unterschied im Geschlecht, im Alter, in der Sprache und so weiter. Man versucht, diese Unterschiede auf dem Papier einzuebnen. Das ist viel leichter, als friedlich mit ihnen zu leben.
In Österreich hat das Höchstgericht die Ehe für gleichgeschlechtliche Paare geöffnet. Sie sagen: Die Ehe von Mann und Frau sei etwas Schützenswertes. Warum sollte sie das sein?
Die Beziehungen zwischen den Geschlechtern sind Privatsache. Mit wem ich zu Bett gehe, geht den Staat nichts an. Wohl dagegen darf, ja muss er sich damit beschäftigen, wenn aus der Vereinigung zweier Menschen neue Bürger entstehen können. Mit der Öffnung der gleichgeschlechtlichen Ehe tut man so, als gebe es keinen Unterschied zwischen einer Verbindung, die unfruchtbar sein kann, und einer, die unfruchtbar sein muss.
Sie gehen sogar weiter und sagen, die wichtigste Aufgabe im Leben eines Menschen sei es, Vater oder Mutter zu sein. Reicht es nicht, ein gutes Leben zu führen?
Kinder zu zeugen ist keine Pflicht, aber nötig, wenn das menschliche Abenteuer weitergehen soll. Es ist bemerkenswert, dass man das zum Ausdruck bringen muss, aber ohne unsere Eltern gäbe es uns nicht.
Woher rührt die Tendenz, heute in jeder Unterscheidung eine Diskriminierung zu sehen?
Vielleicht kommt darin ja eine grundsätzliche Auflehnung gegen die Natur zum Ausdruck, eine Revolte gegen das Gegebene. Boshaft könnte man vom Zwang zur Gleichschaltung reden. Im Zeichen des Fortschritts soll die Menschheit zum glücklichen Zustand der Ununterscheidbarkeit geführt werden.
Sie warnen in diesem Zusammenhang auch vor einem falsch verstandenen Multikulturalismus. Was ist falsch an der Idee eines friedlichen Miteinanders?
Die Vielfalt der Kulturen ist ein Reichtum, den ich nur begrüßen kann. Das bedeutet nicht, dass sie denselben Wert haben: Menschenopfer, Sklaverei und dergleichen gefallen mir kaum. Die eigentliche Frage ist für uns heute politischer Natur: Ist es möglich, dass in einem Land mehrere Kulturen existieren, die sich auf unterschiedliche Rechtssysteme berufen? Die verschiedenen Sprachen sind ja nicht das Problem. Problematisch wird es, wenn das normative System nicht mehr überall gilt und der Staat sein Gewaltmonopol verliert. Dann kann das Schlimmste passieren.
Ist das in Ihrem Heimatland Frankreich schon der Fall?
Es soll Vororte geben, in denen die Scharia oberstes Gesetz ist. Man sagt, dass sich Polizei und Feuerwehr und sogar die Rettung in manche Enklaven gar nicht mehr hineinwagen. Und so gibt es in Frankreich bereits Stimmen, die sich für eine Teilung des Landes aussprechen.
In Ihrer Erklärung ist die Rede davon, dass es eine neue Staatskunst in Europa brauche, um diesen Bedrohungen zu begegnen. Was verstehen Sie darunter?
Europa braucht Dirigenten, die wirklich dirigieren, Lenker, die wirklich lenken. Die Leute, die es gegenwärtig führen, wirken, als hätten sie auf das eigentlich Staatliche verzichtet. Die regieren nicht. Sie halten viele schöne Reden, aber was tun sie?
Und Angela Merkel? Ist sie eine gute Staatsfrau?
Tja. Das heißt nicht, dass ich mit allen ihren Entscheidungen einverstanden bin. Aber die Kanzlerin hat Sinn für den Staat.
Gibt es einen Ort, an dem sich für Sie die Idee von Europa am schönsten erfüllt?
Da gibt es viele Orte. München, weil ich dort mit großer Freude gelehrt habe. Wien als einstige Hauptstadt eines Reiches und Rom als Hauptstadt des Reiches. Oxbridge wegen C. S. Lewis und Tolkien mit seiner wunderbaren Sprache eines Professors für Altenglisch. Krakau und Salamanca. Barcelona trotz der dummen Leute dort. Und Brüssel, aber nur wegen Tim und Struppi. Ich kenne nicht alle Länder Europas. Aber in jedem, das ich kenne, fühle ich mich daheim.