Herr Ziegler, Sie sind in wohlhabenden Verhältnissen in der reichen Schweiz groß geworden. Sie hätten eine klassische Karriere eines gutbürgerlichen Sohnes einschlagen können. Stattdessen sind Sie zu einem prominenten Globalisierungsgegner und Kritiker des Raubtierkapitalismus geworden. Ihr neues Buch heißt: „Ändere die Welt! Warum wir die kannibalische Weltordnung stürzen müssen“. Wie entwickelt man sich zu dem, wenn man in so einem sicheren Umfeld aufwächst?
JEAN ZIEGLER: Solche Schlüsselerlebnisse sieht man ja erst sehr viel später im Leben. Ich bin in Thun, einer kleinen Stadt am Eingang zum Berner Oberland, aufgewachsen. Mein Vater war Gerichtspräsident und Oberst in der Schweizer Armee, sehr introvertiert, aber ein liebender Mensch. Meine Mutter war das genaue Gegenteil. Nicht sehr kultiviert, Bauerstochter aus dem Mittelland. Aber sie haben sich sehr geliebt und das spürten wir Kinder. Ich bin also in einem sehr liebevollen, behüteten Milieu aufgewachsen. Aber als ich etwa 13 oder 14 Jahre alt war, wurde ich mit einem Phänomen konfrontiert, dass sich in der Schweiz „Verdingkinder“ nennt.
Das heißt?
ZIEGLER: Die Kleinbauern aus der Bergen konnten ihre Kinder nicht ernähren und „verdingten“ sie, also verkaufen sie, an die Großbauern im Mittelland. Sie mussten dann um vier Uhr morgens Kühe melken, durften nicht in die Schule gehen und wurden misshandelt. Ich bin damals im Winter mit meinem glitzernden Velo in warmen Kleidern ins Gymnasium über den Viehmarkt gefahren und habe diese gleichaltrigen Kinder gesehen mit ihren Holzschuhen, unterernährt, bleich. Während die Großbauern nebenan mit Sauerkraut und Bier feierten.
Wie haben Sie darauf reagiert?
ZIEGLER: Ich habe meinen Vater gefragt: Was ist das? Er hat mir das System erklärt und gesagt, da kannst du nichts tun. Gott hat die Welt so gewollt und gemacht, das ist so. Alles was du tun kannst: 'Mach dei Sach', wie man in der Schweiz sagt. Also, mache deine Sachen. Daran kann man die Calvinistische Prädestinationslehre sehen, die absolute Vorbestimmung. Wenn man das einem 13- oder 14-Jährigen sagt, dann geht er in die Luft. Das war für mich unerträglich. Ich habe mein Leben vor mir gesehen als eine Betonzelle, als eine reine Reproduktion. Anwalt oder Notar studieren in Thun, Frau und Kinder haben, Sparheft und dann sterben.
Sie sind dann aus diesem Umfeld geflüchtet?
ZIEGLER: Ich habe mich sehr, sehr schlecht benommen. Der Streit ist eskaliert. Ich habe meinen Vater beschimpft. Es war keine Opposition, die sich in mir artikulieren konnte, ich hatte noch keine analytischen Instrumente zur Hand, aber es wurde einfach unerträglich. Und bin dann als 16-Jähriger weggelaufen. Mein Vater hat darunter sehr gelitten, weil er ein sehr liebender Mensch war und nicht verstehen konnte, wieso ich mich so benahm. Ich habe mich 40 Jahre später mit ihm wieder versöhnt. Ich schäme mich aber bis heute und bereue es.
Wo sind Sie hingeflüchtet?
ZIEGLER: Ich habe in Paris Kisten geschleppt in einem Lebensmittelgeschäft und gleichzeitig studiert. Dort habe ich Jean-Paul Sartre und Simone de Beauvoir kennengelernt und das hat mich gerettet.
Wie kamen Sie zu Sartre?
ZIEGLER: Es war gerade der Algerienkrieg und es gab ja zwei Millionen Algerier in Frankreich, von denen eine Kriegssteuer eingezogen wurde. Der Sekretär von Sartre, Francis Jeanson, hatte eine Untergrundorganisation aufgebaut für den Transport von Geld nach Tunis zur provisorischen Regierung. Ich hatte einen Schweizer Pass, habe ihn alle drei Monate verloren und einen neuen beantragt. Der alte Pass hat algerischen Agenten gedient. Da war ich tätig als Hilfskraft und Satre war der Patron.
Wie kam es zu dem Ihrem engen Verhältnis zu Sartre?
ZIEGLER: Nach meinem Einsatz für die UNO im Kongo hat Sartre mich zu sich gerufen. Er hat mich ausgefragt über den Kongo, weil er am Vorwort für das Buch „Die Verdammten dieser Erde“ von Franz Fanon schrieb. Er war ja selbst nie in Afrika. Sartre sagte, dass müssen Sie aufschreiben. Mein allererster Text erschien ausgerechnet im „Les Temps Modernes“ bei Gallimard. Sie können sich gar nicht vorstellen, was das für einen 26-jährigen Trottel, deutsch-schweizer Kleinbürger, bedeutet hat. Simone de Beauvoir hat den Text redigiert, unter dem noch Hans Ziegler stand. Sie sagte, dies sei doch kein Name, strich Hans durch und schrieb Jean Ziegler darunter.
Was hat Ihnen Sartre gegeben?
ZIEGLER: Ich verdanke ihm die intellektuelle Instrumentalität. Sartre ist das beste existenzielle Beispiel für einen engagierten Intellektuellen. Ich habe bei ihm gelernt, dass ein Intellektueller nur eine historische Existenz hat, wenn seine Ideen materielle Kraft werden.
Wurden Sie dadurch zum Kämpfer gegen den Raubtierkapitalismus?
ZIEGLER: Es gab noch ein Schlüsselerlebnis im Kongo. Ich war mit der UNO im letzten funktionierenden Hotel in Kinshasa. Jeden Abend warfen die indischen Köche die Speisereste über den Zaun auf den Boulevard. Dort kamen dann die Frauen und Kinder auf spindeldürren Beinen, rissen die Reste vom Stacheldrahtzaun und die Wächter schlugen ihnen auf den Kopf mit den Gewehrkolben, um sie abzuwehren. Im zweiten Stock saßen wir nach dem Nachtessen bei gedämpfter Musik und sahen das. Damals schwor ich mir, dass ich, egal was passieren würde, nie mehr auf der Seite der Henker sein würde.
Dann trafen Sie Che Guevara?
ZIEGLER: Ja. Ich war verschiedene Male in Kuba. Dann kam die erste Weltzuckerkonferenz 1964 in Genf. Die Kubaner hatte nur ein Konsulat in Prag. Sie fragten an, ob ich helfen kann und so wurde ich für zwölf Tage der Fahrer von Che. Am Vorabend der Abreise nahm ich all meinen Mut zusammen und sagte: Comandante, ich will mit euch gehen. Er stand mit seiner olivgrünen Windjacke und seiner Baskenmütze mit dem goldenen Kommandanten-Stern am Fenster und schaute über das abendliche Genf mit dem See und den Leuchtreklamen der Banken. Er sagte: Siehst du diese Stadt? Das ist das Gehirn des Monsters. Da bist du geboren, da musst du kämpfen. Hat sich kalt abgewendet. Schluss. Ich war am Boden zerstört und hab gedacht, er nimmt mich war als ein nutzlosen Kleinbürger. Aber er hat mir das Leben gerettet und mir eine Richtung gegeben. Ich war ja Dienstverweigerer in der Armee und hatte keine militärische Ausbildung. Ich läge seit Jahrzehnten in irgendeinem Straßengraben in Venezuela oder Guatemala. Heute hängt Che als Plakat in meinem Büro. Darunter steht: Wo immer uns der Tod überrascht, er sei willkommen, wenn er begleitet ist vom Rattern der Maschinengewehre.
Ist dieser Kampf heute noch gerechtfertigt?
ZIEGLER: Mehr denn je. Stellen Sie sich diese kannibalische Weltordnung vor, in der wir leben. Laut Weltbank haben im Vorjahr die 500 größten transkontinentalen Privatkonzerne 52,8 Prozent des Bruttoweltproduktes kontrolliert. Ohne jegliche soziale Kontrolle natürlich. Sie haben eine Macht, die nie ein Kaiser, König oder Papst gehabt hat. Sie haben eine politische, finanzielle, militärische, aber auch eine ideologische Macht mit ihren neoliberale Wahnideen, die das Kollektivbewusstsein entfremdet. Es gibt die Diktatur der Oligarchien des globalisierten Finanzkapitals. Die beherrscht die Welt. Es geht nicht darum zu sagen: Das sind die Bösen und wir die Guten. Es geht nicht um Moral. Es ist ein System der strukturellen Gewalt.
Nennen Sie ein Beispiel?
ZIEGLER: Der Kärntner Peter Brabeck-Letmathe ist Präsident des Verwaltungsrates von Nestlé. Das ist der größte Nahrungsmittelkonzern der Welt und die Nummer 27 aller Unternehmungen. Ich kennen ihn. Er ist ein sehr kluger, hochanständiger Mann. Aber die persönliche Motivationsstruktur des Nestlé-Chefs ist irrelevant. Wenn Brabeck nicht jedes Jahr die Shareholder-Value um soundsoviel Prozent heraufjagt, also die Rendite auf Kapital, dann ist er in drei Monaten nicht mehr Chef von Nestlé. Das ist ein System der strukturellen Gewalt. Dieser Weltdiktatur mit ihrer eindrücklichen Kreativität und Kompetenz steht das unglaubliche Leid der dritten Welt gegenüber.
Sie zielen auf die Nahrungsmittelkonzerne?
ZIEGLER: Alle fünf Sekunden ist im vergangenen Jahr laut Weltfoodreport ein Kind unter zehn Jahren an Hunger oder seinen unmittelbaren Folgen gestorben. Von den 7,8 Milliarden Menschen auf der Welt ist eine Milliarde permanent schwerst unterernährt. Die Weltlandwirtschaft könnte aber nach dem selben Report, der von niemandem bestritten wird, problemlos zwölf Milliarden Menschen ernähren. Es gibt keinen objektiven Mangel mehr heute auf der Welt. Jedes Kind, das am Hunger stirbt, wird ermordet.
Wer mordet?
ZIEGLER: Das ist diese kannibalische Weltordnung. Wie man am Hunger stirbt, ist immer und überall gleich, nur die Kausalitäten sind komplex. Aber sie sind alle vom Menschen gemacht. Die Börsenspekulationen auf Grundnahrungsmittel, das sind Mais, Getreide und Reis. 2008 hat der Banken-Banditismus die Finanzmärkte ruiniert. Dann sind die großen Hedgefonds, die Großbanken und Großspekulanten mehrheitlich umgestiegen auf die Rohstoffbörsen, also Energie und Nahrungsmittel. Sie machen mit ganz legalen Börseninstrumenten astronomische Gewinne.
Aber wie soll nun jeder einzelne das ändern?
ZIEGLER: Börsenspekulationen könnten morgen früh verboten werden. Es gibt keine Börse der Welt, die im rechtsfreien Raum funktioniert. Der Nationalrat in Wien könnte das Börsengesetz um einen Artikel erweitern: Spekulationen auf Grundnahrungsmittel wie Reis, Getreide oder Mais sind verboten. Punkt. Millionen Menschen wären binnen weniger Wochen gerettet. Es gibt keine Ohnmacht in der Demokratie. Das Buch ist ein Handbuch des Kampfes, nicht der Utopie.
Der Kampf ist nicht militärisch gemeint?
ZIEGLER: Nein. Die Verfassung in Österreich gibt den Bürgerinnen und Bürgern allen Waffen in die Hand, um diese kannibalische Weltordnung zu stürzen.
Was hindert uns daran aufzustehen und zu sagen: Wir wollen das nicht mehr?
ZIEGLER: Das ist die zentrale Frage. Das ist die Entfremdung. Jeder Mensch wird geboren mit einem Identitätsbewusstsein. Wenn ein Hund sieht, wie ein anderer Hund geschlagen wird, passiert nichts. Wir sind das einzige Lebewesen auf dem Planeten, dass sich im anderen erkennt. Kant sagt: Die Unmenschlichkeit, die einem anderen angetan wird, zerstört die Menschlichkeit in mir. Dieses Bewusstsein ist verschüttet von der neoliberalen Wahnidee. Diese behauptet, wirtschaftliches Tun gehorche Naturgesetzen. Der Neoliberalismus ist, wie Pierre Bourdieu gesagt hat, wie die Aids-Krankheit. Sie zerstört erst die Immunkräfte des Opfers und dann tötet sie das Opfer. Die neoliberale Herrschaftsidee induziert beim Menschen ein Gefühl der Ohnmacht. Die Menschen glauben, dass sie nichts tun können. Man kann gegen die Marktkräfte ja doch nichts tun. Das führt zur einer Selbstlähmung, zu einer Selbstentmündigung. Zur freiwilligen Abgabe seiner Autonomie. Der Mensch ist sich selbst fremd geworden, wie Adorno sagt. Das muss durchbrochen werden.
Dann müsste Sie das Wahlergebnis in Griechenland doch jubeln lassen?
ZIEGLER: Ja, genau.
Ist das der Ausdruck von Unmut?
ZIEGLER: Es ist der Austritt aus der Ohnmacht. Der Bruch mit einer Weltordnung, die nur zu Elend und Verarmung in Griechenland führt. Die Ausweglosigkeit der Merkel-Politik ist doch unglaublich. Die Kredite sind direkt an die Gläubigerbanken gegangen, nicht an Investitionen und Aufbau der Infrastruktur. Dabei ist Deutschland eine der lebendigsten Demokratien. Doch auch Frau Merkel gehorcht dem Diktat der Deutschen Bank.
Es gibt aber nicht nur linke Kräfte, die ihre Wut äußern. In Dresden geht die Pegida auf die Straße mit extrem rechten Parolen. Akzeptieren Sie, dass Ihre Aufforderung, sich zu ändern, von den Falschen aufgegriffen wird, wenn diese nur ihren Willen äußern?
ZIEGLER: Das Bewusstsein weiß, was es nicht will. Das hat schon Kant gesagt. Wir wollen nicht auf einer Welt leben, die von Reichen regiert wird und wo alle fünf Sekunden ein Kind verhungert. Wir wissen auch, weil wir das als Utopie in uns tragen, als zugerechnetes Bewusstsein, als einforderbare Gerechtigkeit, wo wir hinwollen. Die Völker haben das in Artikel 1 und 3 der UN-Menschenrechtsdeklaration formuliert. Wie man von der radikalen Negation zu Realisierung der Utopie kommt, das ist das Mysterium der Geschichte. Es ist nur wichtig, dass der Aufstand des Gewissens da ist und die Entfremdung weg ist, das Volk in Bewegung ist. Da können auf dem Weg auch Pegida oder andere Irrwege passieren. Das gab es immer in der Geschichte. Aber sicher ist, dass die Geschichte einen Sinn hat. Die Menschwerdung des Menschen ist ihr Ziel.
INTERVIEW: INGO HASEWEND