Heute, Dienstag, werden sich für 2000 Häftlinge in England und Wales vorzeitig die Gefängnistore öffnen. Danach kommen, in den Herbst hinein, weitere 3500 Insassen früher als geplant auf freien Fuß.

Zu dieser „Notmaßnahme“, die in der Bevölkerung schon einige Unruhe ausgelöst hat, glaubt sich die Labour-Regierung Sir Keir Starmers wegen der Totalüberfüllung der Haftanstalten auf den Britischen Inseln gezwungen. Nur so könne „das Schlimmste verhindert“ und ein weiteres Funktionieren des Strafvollzugs gewährleistet werden, haben Starmers Minister erklärt.

Richter, Anwälte und Gefängnisdirektoren fürchten allerdings, dass noch wesentlich radikalere Maßnahmen erforderlich sein werden, um der „verzweifelten“ Lage in Haftanstalten und Polizeizellen beizukommen. Die Bewährungsdienste haben unterdessen vor eigener Überlastung und vor massenhafter Obdachlosigkeit der Entlassenen gewarnt.

Gefängnisse in Großbritannien völlig ausgelastet

Letzten Erhebungen zufolge sind von den 89.550 verfügbaren Gefängnisplätzen in England und Wales 88.350 belegt. In den geschlossenen Männer-Anstalten waren zu Monatsbeginn nur noch wenige hundert Plätze frei. Grund für die Überfüllung ist der Mangel an Neubauten über viele Jahre hin, bei einer gleichzeitigen steten Verschärfung der Strafen und dem entsprechend kontinuierlichen Anwachsen der Zahl der Inhaftierten Jahr auf Jahr.

So viele Inhaftierte wie heute hat es in der neueren Geschichte Englands noch nie gegeben. Laut „Prison Reform Trust“ haben England und Wales die höchste Sträflingsrate Westeuropas. Auf 100.000 Einwohner kommen hier 141 Insassen, während es in Frankreich 106 und in Deutschland 67 sind.

Zusätzlich und unerwartet verschärft hat sich die Lage durch die rechtsradikalen Krawalle dieses Sommers, bei denen über tausend Personen festgenommen wurden. Weil die Gefängnisplätze so knapp sind, hält man viele der Festgenommenen noch immer in Polizeizellen fest.

Häftlinge werden kreuz und quer durch das Land gebracht

Denn weithin sind auch Prozesse und Verurteilungen hinausgezögert worden. Im Extremfall will man die bisher noch nie benutzte „Operation Brinker“ in Gang setzen, bei der zu Gefängnisstrafen Verurteilte in Gefangenen-Transportern kreuz und quer durchs Land gefahren würden, hin zu Strafanstalten, in denen gerade ein Platz frei geworden ist.

Zur vorübergehenden Entlastung der Gefängnisse will die Regierung nun am Dienstag mit ihrer Frühentlassungs-Aktion beginnen. Normalerweise können Sträflinge in England und Wales nach Absitzen von 50 Prozent ihrer Haftzeit entlassen werden. Diese Erfordernis hat Starmers Regierung nun auf 40 Prozent heruntergeschraubt.

Justizministerin Shabana Mahmood hat dabei gelobt, dass zu den vorzeitig Entlassenen keine Gewalttäter, keine für sexuelle Delikte Bestraften und keine wegen häuslicher Gewalt Verurteilten zählen werden. Rechtsexperten glauben allerdings, dass das in der Praxis nicht so einfach umzusetzen sein wird.

Englischen Bewährungsdiensten fehlt die Kapazität

Vor den Folgen der Frühentlassung gewarnt haben auch die Bewährungsdienste, die befürchten, mit der Großzahl plötzlich Entlassener nicht zurechtzukommen. Es sei „unvermeidlich, dass da Dinge schief laufen werden“, hat Martin Jones, der Inspekteur für Bewährungshilfe, erklärt. Ministerin Mahmood hat tausend zusätzliche Bewährungshelfer in Aussicht gestellt – wobei die Ausbildung allerdings neun Monate in Anspruch nimmt.

Nach Ansicht namhafter Juristen tragen aber auch die Frühentlassungen nur vorübergehend zur Entschärfung der explosiven Lage im Strafvollzug bei. „Bisher haben wir das Wasser in unserem leck geschlagenen Boot mit den Händen ausschöpfen müssen“, beschreibt es die Anwältin Andrea Coomber, Chefin der Howard League für Strafrechtsreform. „Die Maßnahme der vorzeitigen Freilassung hat uns ein paar große Eimer an die Hand gegeben. Aber das Wasser läuft immer noch weiter ins Boot.“

Bei unveränderten Bedingungen erwartet man einen weiteren Anstieg der Zahl der Häftlinge auf insgesamt 115.000 bis März 2028. Eine Gruppe ehemaliger Top-Richter hat darum in einem Bericht für die Howard League dazu geraten, die von Regierungsseite in den letzten 50 Jahren verdoppelten Haftzeiten wieder zu senken – zumal ihrer Ansicht nach längere Strafen nicht zu einer Reduktion der Kriminalität geführt haben.